Ballbesitzstrategien

Ralf Rangnick gibt ja durchaus gern mal hier oder dort ein längeres Interview. Kurze Updates nach dem Training wie noch unter Ralph Hasenhüttl gehören zwar überwiegend der Vergangenheit an, aber an anderer Stelle ist der Trainer aka Sportdirektor von RB Leipzig weiterhin auskunftsfreudig. Was es auch einfacher macht, über Thesen zu diskutieren, weil es schlicht überhaupt welche gibt..

In einem insgesamt sehr spannenden MZ-Interview mit vielen interessanten Zwischentönen ging es zuletzt unter anderem auch um Ballbesitz. Eines der gern diskutierten Themen in den letzten Wochen. Der Ballbesitz ist tot. Nein er lebt. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Das Ausscheiden der deutschen Nationalmannschaft bei der WM befeuerte die Debatte zusätzlich. Ralf Rangnick hatte diese Form von Ballbesitzfußball letztlich ja auch durchaus deutlich abgekanzelt.

Wobei halt eher die Frage ist, was man für Ballbesitz hat und nicht dass man Ballbesitz hat. Den Ball zu haben oder nicht zu haben, sagt ja noch nichts über die Qualität der Ideen aus, wie man ein Tor erzielen will. Natürlich ist es schön, wenn man ein Tor nach Balleroberung erzielen kann, weil es dann am einfachsten ist, weil die Wege zum Tor nicht so verstellt sind. Als eine Mannschaft wie RB Leipzig hat man aber auch automatisch den Ball, weil der Gegner ihn nicht haben will (was relativ häufig vorkommt) und man braucht entsprechend Ideen, in welchen Zonen man ihn verlieren kann (sprich, in welchen Zonen man mehr Risiko nimmt) und in welchen nicht.

Egal wie, interessant an Ralf Rangnicks Interview wie gesagt auch die Zwischentöne, mit denen er sich als Papa des Vereins darstellt, der seine Söhne (aka das Trainerteam) in der Pubertät mal auch hat eigene Wege gehen lassen, um ihnen dann (zum Beispiel beim Thema Ballbesitz) zu demonstrieren, dass die Wege wohl falsch waren (gab ja in den letzten Wochen immer mal wieder einen Punkt, an dem Rangnick erklärte, er hätte Dinge ganz anderes gehandhabt als das ehemalige Trainerteam um Hasenhüttl). Ein bisschen lässt sich daraus auch ablesen, dass die Zusammenarbeit rein inhaltlich nicht ganz so reibungslos war, wie man in der letzten Rückrunde immer mal getan hat.

Auf eigenen Ballbesitz zu wechseln, war kein Gebot der körperlichen Überlastung.

So ruft Ralf Rangnick dem alten Trainerteam hinterher. Und verweist dabei darauf, dass man ja im ersten Saisondrittel 2017/2018 trotz Dreifachbelastung noch zwei Punkte im Schnitt holte und danach bei gleicher Belastung nur noch einen. Das ist eine etwas einfache Rechnung, denn Fakt ist, dass RB mit viel Vorbereitungszeit auf Spiele über die gesamte Saison hinweg deutlich mehr Punkte holte als ohne große Vorbereitungszeit. Mehr als 1,8 Punkte waren es pro Spiel ohne Partie unter der Woche. Nur 1,25 Punkte in Spielen mit Partie unter der Woche.

Dass es zu Saisonbeginn im Jahr 2017/2018 noch gut lief, könnte auch damit zusammenhängen, dass man eben zu Saisonbeginn noch nicht so ausgelaugt war und englische Wochen noch leichter wegsteckte. Zudem spielte man nach der Champions League in fünf von sechs Fällen am Wochenende zu Hause (und im einen Fall, wo man das nicht tat, lagen fünf(!) Tage zwischen CL und Bundesliga). Was dann in Sachen Vorbereitung auf die Bundesligapartien dann eben doch noch mal eine vergleichsweise idyllische Situation war.

Interessant in Sachen Belastung auch, dass RB Leipzig in der letzten Saison an den letzten sechs Spieltagen in der Bundesliga immer deutlich unter 113 km und meist auch unter 110 km lief (bei über die Saison gesehen einem Schnitt von 114,5 km bzw. deutlich über 115 km, wenn man die letzten sechs Spiele nicht mitrechnet). Klar, das kann man sich auch als Folge von psychischen Geschichten (etwas auseinanderfallender Teamspirit, weniger Motivation) interpretieren. Aber die naheliegende Interpretation wäre dann doch, dass sich am Ende der Saison dann eben auch bemerkbar machte, dass der Körper einfach der langen Spielzeit Tribut zollen musste.

Wofür ja auch spricht, dass RB Leipzig (unter anderem aus Kaderplanungsgründen und fehlenden Defensivzugängen in der Winterpause) mit einer relativ kleinen Rotation auskommen musste. Nur bei den Bayern standen die zehn meisteingesetzten Feldspieler letzte Saison länger auf dem Platz (dafür rannten sie deutlich weniger). Der ganze Rest der Bundesliga folgte mit sehr großem Abstand.

Das alles soll nur zeigen, dass den Zahlen nach die Belastungen der Saison im Vorjahr durchaus eine Rolle spielten und es zumindest ein Gebot war, auf diese Belastungen in irgendeiner Form zu reagieren. Ralf Rangnick tut dies diese Saison, indem er sich in einer radikalen Rotation versucht. Ralph Hasenhüttl rotierte mit einem weniger breiten Feldspielerkader nicht so stark, aber suchte halt auch nach Möglichkeiten, Belastungen über Spielideen zu steuern und bspw. sein Team etwas tiefer verteidigen und weniger aggressiv anlaufen zu lassen. Was sich auch in nur durchschnittlichen bis unterdurchschnittlichen Laufleistungen in der Bundesliga (außer im Sprintbereich) demonstrierte.

Wenn du gegen tiefstehende Gegner den eigenen Ballbesitz in den Vordergrund rückst, bedeutet das viel Aufwand, um Torchancen zu kreieren. Wenn die frühe und aggressive Balleroberung funktioniert und klappt, ergibt sich daraus fast immer eine Torchance.

So Ralf Rangnick in der Mitteldeutschen Zeitung weiter. Quasi als Weiterführung der These, dass Ballbesitz nicht nur keine sinnige Antwort auf die Frage nach einer Verringerung von körperlichen Belastungen ist, sondern umgekehrt die Belastungen durch Ballbesitz sogar noch höher werden, weil es dann schwieriger wird, Tore zu erzielen.

Das ist ganz grundstätzlich vor allem erstmal eine gewagte These. Denn die Gegenthese formuliert der FC Bayern höchstpersönlich. Die haben traditionell mit Abstand den höchsten Ballbesitz aller Teams und werden trotzdem von Jahr zu Jahr Meister und schießen die meisten Tore (und Konter spielen dabei keine große Rolle). Vor allem aber laufen sie dabei mit Abstand am wenigsten. Womit sie in der letzten Saison auch die wie bei RB sehr kleine Rotation ausglichen. Vier Kilometer weniger als der Bundesligaschnitt liefen die Bayern letzte Saison. Mehr als zwei Kilometer weniger als Leipzig pro Partie hatten sie zu absolvieren.

Womit man dann bei der interessanten Frage landet, ob nur die Bayern wie die Bayern spielen können und Ralf Rangnick recht damit hat, wenn er sagt, dass das Hasenhüttl-Team zu sehr versucht hat, wie die Bayern zu sein. Vermutlich steckt da ein Stück Wahrheit drin, weil du für das Bayern-Spiel gerade in der Offensive auch die individuelle Bayern-Qualität brauchst. Also Spieler, die aus dem oft eher gemächlichen Ballbesitz heraus in der Lage sind, in den entscheidenden Situationen stark zu beschleunigen oder Dinge auch mal mit Einzelaktionen zu lösen oder schlicht über die fußballerischen Fähigkeiten zu verfügen, am gegnerischen Strafraum auch mal mit schnellen Kombinationen zum Erfolg zu kommen. (Wobei bei letzerem, also dem schnellen Passspiel auch andere Trainer von nicht nicht ganz so talentierten Mannschaften zeigen, dass man das seiner Mannschaft beibringen kann.)

Der Punkt ist, dass die These, Ballbesitz führe zu mehr Aufwand im Offensivspiel und höheren Belastungen, eigentlich unhaltbar ist (außer man läuft permanent Rückständen hinterher), weil man mit dem Ball am Fuß ja auch immer erstmal den Gegner laufen lässt und nicht sich selbst (außer man löst alles über Dribblings und nicht über Passspiel). Ballbesitzspiel kann also durchaus etwas sein, was den Gegner stresst und/ oder sich selbst ein bisschen eine Auszeit gönnt (zudem kann man Ballbesitz auch dazu nutzen, einfach verschiedene Standards in Strafraumnähe zu generieren und darüber Tore zu schießen).

Das sieht Ralf Rangnick ja durchaus auch bei RB Leipzig so:

Es braucht auch Phasen, in denen du den Ball in den eigenen Reihen hältst und meinetwegen Tikitaka spielst wie einst Barcelona unter Pep Guardiola oder aktuell mit Manchester City, um zu regenerieren oder den Gegner zu zermürben.

Und Diego Demme fügte da letztens hinzu:

Klar brauchst du Ballbesitzphasen, vor allem, wenn du führst, kannst du den Gegner sich so müde laufen lassen. Das fangen wir gerade auch an zu trainieren.

Mal ganz davon abgesehen, dass man das jetzt erst anfängt zu trainieren, wo die Probleme im Verteidigen von Vorsprüngen auch über Ballbesitz eigentlich spätestens seit Anfang 2018 eines der zentralen Themen bei RB Leipzig waren (und Ralph Hasenhüttl eigentlich von seinen Ideen her an diesen Themen dran war), zeigt sich genau in diesen Passagen ja auch, wie vielfältig Ballbesitz aussehen kann. Und aussehen muss, wenn man ein Topteam sein will.

Denn natürlich geht es nicht darum, Ballbesitz zum Selbstzweck zu erheben und die Murmel bei jedem Spielstand immer schön um den gegnerischen Strafraum zu bewegen (auch wenn das bei RB gegen Düsseldorf einigermaßen so aussah..). Sondern natürlich geht es um die Variabilität, in den entscheidenden Zonen auch mal Geschwindigkeit in die Aktionen zu kriegen. Am liebsten natürlich aus dem Umschaltmoment heraus, aber auch aus dem Ballbesitz muss das immer mal funktionieren, dass aus guten Feldpositionen auch gute Abschlusssituationen entstehen.

Auf der anderen Seite braucht man den Ballbesitz auch, um mal das Tempo für sich rauszunehmen und den Gegner arbeiten und laufen zu lassen. Also das, was RB Leipzig letztet Saison vor allem bei Führungen wie gegen Köln, den HSV oder in Freiburg fehlte, als man noch Vorsprünge und die Champions League verspielte. Gerade die Partie gegen Köln, als man aufgrund fehlender Ballbesitzstrukturen den Gegner stark machte und sich selbst durch permanentes Ballabschenken unter Druck brachte, war diesbezüglich ein eklatantes Beispiel.

Fakt wird auch für die kommende Saison, dass RB Leipzig viel den Ball haben wird. Von daher ist es auch eine etwas sinnfreie Debatte, ob man nun ein Ballbesitzteam sein will oder nicht, weil man schlicht eins ist. Wenn auch eins, das jenseits von Ballbesitzphasen vor allem den Umschaltmoment bei Ballgewinn zum zentralen Ausgangspunkt von Offensivgefahr machen will.

Hilft aber nichts, dass man aus den bisher immerhin 57% Ballbesitz auch was machen muss und dafür gute Ideen und Strukturen braucht. Zumal wenn man keinen Keita mehr hat, der durch ein gut gesetztes Dribbling mal eben Räume öffnen kann, die vorher nich da waren. Gegen Dortmund in der zweiten Halbzeit und gegen Düsseldorf spielte RB sich in Rückstand ein wenig einen Wolf, ohne dabei ganz große Offensivgefahr auszustrahlen. Ist aber auch immer noch mal eine Spur schwieriger, aus Ballbesitz Offensivgefahr zu entwickeln, wenn der Gegner nur verteidigt. Nicht umsonst hat Ralf Rangnick den Fokus so stark (aber in der Liga bisher auch erfolglos) auf Standards gelegt, um Ballbesitz auch auf andere Art und Weise zu veredeln, als durch Tore aus dem Spiel heraus.

Jogi Löw hat zuletzt gar nicht falsch analysiert, dass Ballbesitz vor allem auch im Ligabetrieb weiterhin eine wichtige und erfolgsversprechende Geschichte ist. Richtig ist das deswegen, weil es über 34 Spiele im Normalfall nicht reicht, nur auf Umschaltsituationen zu lauern. Zumindest reicht das nicht, um ganz, ganz oben mitzuspielen. Im Ligabetrieb hat man aufgrund längerfristig zusammenspielender Mannschaften die Chance, Abläufe auch mit dem Ball ganz anders einzuspielen als in einem Turnier, bei dem man die Mannschaften erst kurz zuvor zusammenruft. Generell kann man in K.o.-Spielen mit viel Aufwand im Spiel gegen den Ball noch mal anders überraschen als in einem Ligasystem, in dem man (zumal bei Dreifachbelastung) auch immer mal Hochs und Tiefs in Sachen Aufwand und Physis hat.

Entsprechend bleibt die Diskussion um den Ballbesitz weitgehend eine akademische, weil die Frage eher wäre, was man mit dem Ballbesitz so anstellt. Bälle in den Strafraum schlagen und dann dort durch entsprechende Positionierung und Strafraumbesetzung für Chaos sorgen, wie es offenbar bei RB in den letzten Spielen der Plan sein sollte. Langsames, fehlerfreies Bewegen des Balles an den Strafraum, um dort dann mit blitzschnellen Doppelpässen und Einlaufen zu Chancen zu kommen, worauf Lucien Favre in Dortmund gerade hinzuarbeiten scheint. Gut abgesicherte Dribblings, um entweder Räume durch die Eins-gegen-Eins-Situation aufzubrechen oder bei Ballverlust so positioniert zu sein, dass man den Ball gleich wieder erobern und neu angreifen kann, so wie es Ralph Hasenhüttl letzte Saison vorzuschweben schien. Es gibt da ja durchaus verschiedene Ansätze in Sachen Offensivspiel.

Und es bleibt natürlich auch der Ballbesitz als Defensivstrategie, also als Möglichkeit, den Gegner vom eigenen Tor wegzuhalten und laufen zu lassen, um ihn in einen (physisch) roten Bereich zu bringen, den man dann in Umschaltsituationen oder mit anderen Offensivaktionen ausnutzen kann. Eine durchaus nützliche Strategie, natürlich auch um seine eigenen Belastungen zu steuern und im Rahmen zu halten und nicht dauernd im Sprinttempo dem Ball nachjagen zu müssen. Denn nicht immer und abhängig vom Spielstand (wie man ja nach den Rückständen gegen Dortmund und Düsseldorf schon gesehen hat) kriegt man Räume in der Tiefe.

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Auf Ideen im Ballbesitz wird es in der kommenden Saison bei RB Leipzig auch ankommen. | GEPA Pictures - Roger Petzsche
GEPA Pictures – Roger Petzsche

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