Erstaunlicher Zusammenbruch

Auf dem Weg ins Saisonfinale hat sich RB Leipzig noch mal eine ganz formidable Defensivschwäche zugelegt. Zu einem eher ungünstigen Zeitpunkt kassiert man ein Tor nach dem anderen. Seit der letzten Länderspielpause sind es in der Bundesliga pro Spiel drei Stück gewesen. In jedem der Spiele in Hannover, gegen Leverkusen, in Bremen, gegen Hoffenheim und in Mainz verlor man zumindest phasenweise die Kontrolle über die gegnerische Offensive und lief vor allem auch wieder mal in viele, viele Tempogegenstöße.

15 Gegentore in fünf Spielen. Nur Eintracht Frankfurt konnte in diesen fünf Spielen mit 14 Gegentoren halbwegs mithalten. Erstaunlich, wie zwei Teams, die in guten Phasen defensiv sehr stabil agieren können, so massiv auseinanderfallen. Bei RB Leipzig kommen dabei viele Faktoren zusammen, wenn man an Gegentore nach eigenen Standards am gegnerischen Strafraum oder an einige individuelle Fehler, aber auch an ein nicht mehr intensives und präzises Arbeiten im Gegenpressing oder im defensiven Umschalten denkt.

Es gab zuletzt beim Spiel zwischen Juve und Neapel eine schöne Szene, als Neapel in der gegnerischen Hälfte den Ball verlor. Juve in dem Spiel komplett auf Defensive und Konter eingestellt, hatte eine gute Feldposition und viel Raum vor sich. Das Gegenpressing konnte in der Situation aufgrund der Positionierungen der Spieler nicht greifen. Entsprechend war der Raum für einen Konter weit offen. Ausgespielt wurde er trotzdem nicht, weil zehn Neapel-Feldspieler in höchstem Tempo vom einen Moment auf den Nächsten in die eigene Hälfte sprinteten und binnen kürzester Zeit wieder geordnet vor dem eigenen Strafraum standen. Das war durchaus imposant und ein extremer Unterschied zu einigen RB-Situationen in den letzten Wochen, in denen die gegnerischen Akteure aus Umschaltsituationen heraus fast schon ungestört an und in den Leipziger Strafraum spazieren durften.

Vor allem auch im Vergleich mit der Vorsaison werden die Veränderungen bei RB Leipzig deutlich. Klar, der Vergleich mit der Vizemeister-Saison ist immer ein wenig unfair, aber in Bezug auf die Veränderungen in den Defensivabläufen eben auch aussagekräftig. 1,15 Gegentore kassierte man 2016/2017 im Schnitt und war das drittbeste Defensivteam der Liga. 1,56 Gegentore sind es bisher in dieser Saison, womit man zum drittschlechtesten Defensivteam geworden ist.

Schon in der Zahl der zugelassenen Torschüsse gibt es deutliche Unterschiede.. 10,26 Schüsse ließ man letzte Saison zu. 11,47 gegnerische Schüsse pro Spiel sind es bisher in dieser Spielzeit.

  • 2016/2017: 1,15 Gegentore pro Spiel; 10,26 zugelassene Torschüsse pro Spiel
  • 2017/2018: 1,56 Gegentore pro Spiel; 11,47 zugelassene Torschüsse pro Spiel

Besonders deutlich wird der Unterschied allerdings, wenn es um Torabschlüsse innerhalb des Strafraums geht. Lediglich 6,29 Schüsse pro Spiel hatten die RB-Gegner in der letzten Spielzeit von innerhalb des Strafraums, also aus tornahen Positionen. In dieser Saison stehen da schon 7,78 Schüsse pro Spiel. 61% aller Torabschlüsse des Gegners kamen letzte Saison von innerhalb des Strafraums, ein Wert irgendwo im Mittelfeld der Bundesliga. In dieser Saison ist dieser Wert auf 68% angestiegen. Bei keinem anderen Team der Liga ist der Anteil von tornahen Abschlüssen an der Gesamtzahl der Torschüsse für die Gegner so hoch wie bei Spielen gegen RB Leipzig.

  • 2016/2017: 6,29 zugelassene Torschüsse innerhalb des Strafraums; 61% aller Torschüsse von innerhalb des Strafraums
  • 2017/2018: 7,78 zugelassene Torschüsse innerhalb des Strafraums; 68% aller Torschüsse von innerhalb des Strafaums

RB war aufgrund der eigenen, aktiven und immer mal nach vorn verteidigenden Spielweise schon immer ein wenig anfällig für Konter. Was dann eben auch bedeutete, dass die Gegner selten viele Torschüsse bekamen (weil sie schnell zugepresst wurden), aber diese wenn dann aus guten Positionen (weil eben auch oft gegen ein hoch pressendes Team mit Räumen in der Rückwärtsbewegung herausgespielt) abgegeben wurden. Ralph Hasenhüttl hatte diese Problematik letzte Saison ein Stückweit durch etwas tieferes Pressing in die Griff bekommen, aber nicht völlig abgestellt. In dieser Saison schafft RB Leipzig es dann wieder mal nicht so gut, den Gegner vom eigenen Strafraum wegzuhalten.

Wobei die Probleme im Saisonverlauf noch mal deutlich stärker geworden sind. Während man gerade zum Saisonbeginn die Gegner meist noch auf normalem Niveau vom eigenen Strafraum fernhalten konnte (60% aller Schüsse von innerhalb des Strafraums bis zum elften Spieltag), gelang das in der Folge kaum noch und stehen seitdem 72% als Zahl für den Anteil der Schüsse, die von innerhalb des Strafaums abgeben wurden.

Entsprechend ging auch die Zahl der Schüsse auf das RB-Tor deutlich in die Höhe (also Schüsse, die entweder ins Tor gingen oder von Gulacsi gehalten wurden). Nur Timo Horn bekam in den letzten fünf Spielen mehr auf den Kasten als Peter Gulacsi. 6,4 Schüsse, die auch auf das Tor von RB Leipzig gehen pro Spiel sind ein extrem hoher Wert. In den zehn Rückrundenspielen zuvor standen dort gerade mal 3,1 Schüsse, also nicht mal die Hälfte pro Spiel. In der Hinrunde waren es 4,65 pro Spiel gewesen.

Hinter diesen Zahlen verbirgt sich dann wohl auch das Erstaunlichste an dem ganzen Zusammenbruch. Dass er direkt einer Phase folgte, in der man eigentlich defensiv schon wieder auf dem Stabilitätsniveau des Vorjahrs war, als man über die gesamte Saison nur 2,9 Schüsse pro Spiel auf das eigene Tor zuließ. Die 3,1 Schüsse für die Gegner auf das Tor in den ersten zehn Rückrundenspielen der aktuellen Spielzeit waren sehr gut und der zweitbeste Wert der Liga (und man hatte in dieser Zeit ja trotzdem gegen Bayern, Dortmund, Schalke, Frankfurt oder Mönchengladbach gespielt). Aus dem Spiel heraus passierte vor Gulacsi oft nicht sehr viel. In den ersten fünf Spielen nach der Winterpause kassierte man in der Bundesliga überhaupt nur ein Tor aus dem Spiel heraus (neben drei Standards).

Dass sich die Zahlen in dieser Saison verändert haben, liegt auf der Hand. Denn natürlich hat sich auch die Herangehensweise von RB Leipzig (bzw. die Herangehensweise der Gegner) geändert. Der Ballbesitz ist im Schnitt noch mal deutlich höher geworden. Viele Mannschaften setzen gegen RB auf Ballgewinne und Umschalten. Dass dann die Quote der Abschlüsse in Nähe des RB-Tors höher wird, während die Gegner weniger aus der Distanz schießen (müssen), liegt auf der Hand, weil die Gegner einen höheren Anteil an Angriffen haben, die nicht gegen eine formierte RB-Defensive, sondern gegen eine RB-Hintermannschaft gehen, die in Bewegung ist.

So weit, so normal, weil sich diese Veränderung ja auch auf Seiten der Offensive von RB Leipzig zeigt. Bei der Gesamtzahl der Torabschlüsse sind die Zahlen ein Stück nach oben gegangen (weil mit mehr Ballbesitz im Normalfall auch mehr Angriffsaktionen verbunden sind). Dafür ist der Anteil der Schüsse aus dem Strafraum deutlich heruntergegangen. 71% aller Torschüsse wurden letzte Saison von innerhalb des Strafraums abgefeuert. Nur noch 62% sind es diese Saison. Weil man naturgemäß in vielen Spielen nicht mehr die Rolle des konternden Underdogs spielt oder spielen kann und man sich entsprechend an einer tief im Strafraum stehenden Gegnerverteidigung abarbeitet. Sicherlich auch das ein Grund dafür, dass die Anzahl der eigenen Tore deutlich zurückgegangen ist.

Am imposantesten bleibt bei den Vergleichen aber vor allem der Defensivzusammenbruch bei RB Leipzig seit der letzten Länderspielpause. Direkt vor dem entscheidenden letzten Saisonstück von einer (in der Rückrunde) Top5-Defensive der Liga (in Sachen zugelassene Chancen und Schüsse) zum hinter Köln zweitschlechtesten Defensivteam der Liga zusammenzuschrumpfen, muss man erstaunlich finden. Dass da selbst bei den Verantwortlichen und bei den Spielern ein wenig Ratlosigkeit zu herrschen scheint und man allzu oft auch Floskeln wie jene vom fehlenden Spielglück bemüht, ist entsprechend fast schon nachvollziehbar.

Fehlendes Spielglück kann aber nicht das entscheidende Kriterium sein, um fünf Spiele am Stück mit im Schnitt drei Gegentoren, mehr als acht Chancen für den Gegner pro Spiel (fast dreimal so viel wie Bayern in der Zeit zuließ) und Konter auf Konter, der auf Gulacsi zurollt, zu erklären. Damit würde man es sich dann doch zu einfach machen. Es bleibt neben anderem ein Problem in der Spielsystematik (kein grundsätzliches, weil es ja in den Monaten davor funktionierte), das vielleicht auch aus körperlichen Gründen resultiert. Die Laufleistungen lagen in den letzten fünf Wochen noch mal im Schnitt 5(!) Kilometer unter dem sowieso schon für die Bundesliga nur unterdurchschnittlichen Saisonschnitt von 115 km pro Spiel.  Selbst wenn es Emil Forsbergs Platzverweis gegen Hoffenheim nicht gegeben hätte, würden da in den letzten fünf Wochen im Vergleich zum Saisondurchschnitt pro Spiel im Schnitt 4 Kilometer fehlen.

  • Laufleistung Saisonschnitt: 114,99 km pro Spiel
  • Laufleistung 28. bis 32. Spieltag: 109,7 km pro Spiel

In Bezug auf die Defensivprobleme ist das sicherlich kein unwesentlicher Faktor, weil natürlich mit Laufaufwand auch die Qualität der Absicherung nach defensivem Umschalten verbunden ist. Die Frage wäre dann halt, ob das körperliche Nachlassen einfach ein Problem der langen Saison und der vielen englischen Wochen in der Rückrunde ist (dann müsste man sich in Sachen Trainings- und Belastungssteuerung für die kommende Saison noch mal was einfallen lassen) oder damit Probleme im Team oder zwischen Spielern oder zwischen wem auch immer (also Einstellungs- und Gruppenthemen) verbunden sind. Das können letztlich nur die Beteiligten selbst beantworten.

Fakt ist jenseits der Ursachenforschung, dass es einen eklatanten und auch durchaus rätselhaften Einbruch in den Defensivleistungen seit der letzten Länderspielpause gab. Bis dahin war in der Saison auch nicht alles eitel Sonnenschein, aber gerade in der ersten Phase nach der Winterpause hatte sich RB Leipzig wieder in einen recht stabilen Zustand gebracht, der eine gute Defensive und ein paar Punkte mit sich brachte (witzigerweise im Gegensatz zur Hinrunde, wo das oft noch andersherum war, eher weniger Punkte mit sich brachte, als man sich verdient gehabt hätte).

In einen ganz stabilen Zustand wird man wohl in den letzten zwei Wochen nun auch nicht mehr kommen. Entsprechend heißt es für RB Leipzig ein bisschen, sich ins Ziel zu schleppen. Wenn man drei Gegentore kassiert, ist es sicherlich nicht so richtig einfach, eins mehr zu machen und zu gewinnen. Wenn es mal nur eins oder zwei sind, könnte es schon eher gelingen. Vor allem, wenn man mal nicht in Rückstand gerät. Entsprechend liegen die Hoffnungen bei RB nach den letzten Wochen eher auf der Offensive denn auf der Defensive. Die ist zwar auch nicht immer extrem durchschlagskräftig, aber in den letzten fünf Wochen war sie zumindest beim Herausspielen von Chancen noch in Normalform (sprich auf dem Niveau der Restsaison). Im Gegensatz eben zum Defensivverhalten des Teams.

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Peter Gulacsi stand in den letzten fünf Spielen sehr viel häufiger im Mittelpunkt als ihm lieb gewesen sein dürfte. | Foto: Dirk Hofmeister
Foto: Dirk Hofmeister

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3 Gedanken zu „Erstaunlicher Zusammenbruch“

  1. Du musst den Betrachtungszeitraum ändern und das EL Spiel einbinden, dann wird es deutlicher. ;)
    Seit dem Stimmungsboykott haben wir 1 Unentschieden und 4 Niederlagen bei 6:18 Toren geholt.
    CL Qualifikation und EL Halbfinale wurden verspielt.
    VG Chris

  2. Tja, wenn Du nicht eine Erlärung hast, wer dann?

    Aber sehr schöne Übersicht, vor allen das mit den Laufwerten.
    Und der Vergleich mit Juve-Napoli ist wunderbar, weil ich mich auch an die Szene erinnere. Und man bedenke, Sarri lässt nicht so rotieren, wie RH. Sprich, die Jungs spielen auch 4fach-Belastung eine zeitlang und konnten eben doch diesen Sprint am Ende einer Saison leisten.

    Was mir da fehlt, ist eben so ein Führungsspieler, der auf und abseits des Platzes auf dem Tisch haut. Mir fällt da nur Sabitzer ein und mit Abstrichen Diego Demme. Ein Willi Orban hatte ich es zugetraut, aber wenn ich so seine Aussagen nach dem Spiel höre, ist das viel bekanntes. ;-)
    Und auch deswegen trauere ich den Compper-Abgang sehr hinterher. Er war für mich einer der Teamplayer und hat die Truppe gut zusammen gehalten.

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