Vom Libero zur Doppelsechs

“Oh man, jetzt schieß doch mal!” Wer erwischt sich nicht selbst und vor allem natürlich seine Nebenleute mal bei einem Fußballspiel bei diesem Ausruf (vielleicht ist es ja auch nur ein RB-Phänomen, wo Schüsse von jenseits der Strafraumgrenze seit der Zorniger-Zeit auf dem Index zu stehen scheinen). Es ist dies Teil dessen, dass beim emotionalen Erleben eines Fußballspiels als Fan einer der beteiligten Mannschaften vor allem Individualaktionen wie Zweikämpfe, Dribblings oder eben Torschüsse im Mittelpunkt des Erlebens und Beurteilens stehen.

Es gibt aber jenseits dessen (und neben vielem anderen) auch die Ebene der Taktik, die sich wesentlich weniger intuitiv erschließt und erleben lässt und das Fußballspiel mit einer Komplexität auflädt, die schwer vermittelbar ist. Bzw. Fußballlehrer auf einer Ebene von Komplexität und Nerdigkeit arbeiten, die mit der Bewertung der Geschehnisse durch die Anhänger vom Ergebnis her nur schwerlich in Übereinstimmung zu bringen ist.

Seit ein paar Jahren finden sich allerdings immer mehr dem Fußball anhängende Menschen zusammen, die den theoretischen Unterbau des Spiels verstehen und ihn erklären bzw. erklärt haben wollen (vielleicht weil sie statt “Schieß doch!” auch mal “Klapp doch ab!” rufen wollten). In Deutschland nimmt da spielverlagerung.de sicherlich eine herausragende Stellung ein. Sowohl hinsichtlich der Reichweite als auch hinsichtlich der Erklärungstiefe.

Einer der Autoren der Website ist Tobias Escher, der es von seiner Tätigkeit dort aus in diverseste Publikationen und mediale Erscheinungsformen geschafft hat. Wer mitkriegen will, wann und wo es wieder mal was neues vom “Taktikexperten” (ist das eigentlich schon ein Schimpfwort oder noch eine Wertschätzung?) gibt, der folge ihm am besten bei Twitter. Eben dieser Tobias Escher hat nun ein Büchlein geschrieben, das sich der “Taktikgeschichte des deutschen Fußballs” widmet.

Das Vorbild des Buches ist Revolutionen auf dem Rasen* von Jonathan Wilson. Ein fieser, aber lehrreicher und lesenswerter Wälzer, der die weltweite Entwicklung von Fußballtaktik nachzeichnet und ein wenig das Problem hat, dass man in der engen Abfolge von Personen, Teams und Entwicklungen aus allen Teilen der Welt gelegentlich etwas den Überblick und die Konzentration verliert.

Eschers Buch Vom Libero zur Doppelsechs* hat dieses Problem höchstens im Ansatz. Was vor allem der Tatsache geschuldet ist, dass es sich eben auf einen begrenzten geographischen Raum beschränkt und die Anleihen beim Weltgeschehen nur dann und nur in pointiertem Rahmen sucht, wenn sie für das Verständnis der hiesigen Entwicklungen wichtig sind. Und wichtig sind sie durchaus gewesen, fanden doch zentrale Entwicklungen der Fußballtaktik bis auf die Erfindung des Liberos (so eine der zentralen Thesen des Buchs) außerhalb von Deutschland statt und wurden hierzulande ‘nur’ aufgegriffen und angepasst.

Eschers Reise durch fast 150 Jahre Fußball und seine Entwicklung wird durch diese Beschränkung zu einer Reise, die man gern mitmacht, ohne zwischendurch überfordert zu sein. Querverweise, Erklärkästen und Taktikgrafiken machen die Entwicklungen jederzeit nachvollziehbar und greifbar und auch für jene verständlich, die vielleicht vom hohen Niveau eines längeren spielverlagerungs-Textes abgeschreckt sind. Sprich, das Buch ist nicht mal spielverlagerung light, was hinsichtlich seiner Massentauglichkeit sicherlich vorteilhaft ist.

Skizziert wird einerseits die Entwicklung hinsichtlich von Formationen (also die Zahlenspielchen von 2-3-5 bis 4-4-2), aber auch die Füllung dieser Formationen mit Ideen wie Manndeckung, Raumdeckung, Pressing, Flachpassspiel oder purem Kampf. Dabei reift nebenbei auch die Erkenntnis, dass manches, was ganz modern ist (wie die falsche Neun), auf die eine oder andere Art und Weise in der Geschichte schon mal gespielt wurde und dass komplette Neuerfindungen nach 150 Jahren Entwicklungszeit eher schwierig sind.

Seine Stärken hat das Buch darin, anhand wichtiger Figuren wie  Sepp Herberger, Helmut Schön, Jürgen Klopp oder auch Ralf Rangnick und eingestreuten Anekdoten über deren Hintergründe die taktischen Entwicklungen nicht nur theoretisch zu erklären, sondern sie quasi auch ideengeschichtlich einzuordnen und näher zu bringen. Das bringt spannende Momente mit, wie die naheliegende Erkenntnis, dass die Entwicklung von Taktiken sich teilweise auch vor dem Hintergrund gesellschaftspolitischer Entwicklungen vollzieht, wenn beispielsweise der später auch in der Nazizeit als Nationaltrainer agierende Otto Nerz “Kraft und Härte” als wichtigste Faktoren des Fußballs ausmacht, weil ansonsten “Dekadenz” drohen würde.

Vielleicht hätte man diese gesellschafspolitischen Hintergründe bei der Ideenentwicklung noch stärker pointieren können. Vielleicht hätte das aber auch den Rahmen des Buches gesprengt. Interessant in diesem Zusammenhang, dass ein Ralf Rangnick (in einer Zeit, in der Images und Marken oft an die Stelle gesellschaftspolitischer Ideen treten) den Vorteil seines aktiven (Gegen-)Pressing- und Geschwindigkeitssystems neben dem sportlichen auch darin sieht, dass es gut zur Marke Red Bull passt.

Beteiligt an den wichtigen Entwicklungen der Taktik in Deutschland war Ralf Rangnick vor allem in den 90ern, in einer Zeit, als es hierzulande taktisch mit Libero noch sehr lange, sehr verstaubt zuging, wie das Buch von Escher plausibel darlegt. Neben der klassischen Rangnick-erklärt-im-Sportstudio-die-Viererkette-Story wird auch die gut erzählbare Geschichte niedergeschrieben, wie Rangnick zusammen mit Helmut Groß, der immer noch im Hintergrund sein Mentor ist, Anfang der 90er per Videorekorder Fußballspiele in ihre Einzelteile zerlegte, um festzustellen, dass “Raumdeckung und Pressing der Weg der Zukunft war”.

Wer das Buch “Vom Libero zur Doppelsechs” gelesen hat, wird sicherlich nicht in Nerddiskussionen mitreden können und er wird auch nicht das entsprechende Vokabular beherrschen, aber er wird einen guten Überblick über verschiedene Ideen bekommen, wie man den Fußball von A nach B über das Feld bewegt oder ihm folgt oder eben nicht, wenn der Gegner ihn hat. Und vor allem bekommt man einen Eindruck, warum welche Ideen sich zu welcher Zeit und aus welchen anderen Ideen entwickelten.

Entsprechend hat man während der Lektüre der knapp 300, recht kurzweiligen Seiten ein paar hübsche Aha-Effekte und danach im besten Fall ein Büchlein im Regal, das man immer mal wieder aufschlagen kann, wenn man über Namen oder Systeme stolpert. Deswegen verzichtet man dann auf dem Fußballplatz wahrscheinlich trotzdem nicht auf das “Schieß doch!”, aber das ist dann wieder eine ganz andere Geschichte.

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Wer ein Exemplar des Escher-Buches Vom Libero zur Doppelsechs* haben will, kann es natürlich via des Links bestellen. Oder aber sie oder er schreibt in die Kommentare irgendwas zwischen “Ich will” und “Taktik fand ich schon immer überbewertet, also her mit dem Buch”, dann hat man die Chance ein Freiexemplar zu gewinnen.

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Wem das Lesen zur Informationsaufnahme nicht so richtig taugt, für den gibt es praktischerweise drüben beim Rasenfunk einen fünfeinhalbstündigen Podcast, in dem Tobias Escher als Gast quasi die zentralen Linien seines Buches nachzeichnet. Auf eine fesselnde Art, die auf den ersten Blick gar nicht mit fünfeinhalb Stunden in Einklang zu bringen ist.

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* Affiliate-Link. Bei Bestellung über die Amazon-Seite wandern ein paar Prozent des Kaufpreises zum hiesigen Blogbetreiber.

19 Gedanken zu „Vom Libero zur Doppelsechs“

  1. Klingt gut!
    Vielleicht verstehe ich dann auch mal, was du meinst, wenn du hier oder die Leute im Fernsehen verschiedenste Formationen, Redewendungen und Fachbegriffe fallen lässt. ;-)

    Danke!

  2. Ich habe ein schlechtes Gewissen, dass ich hier nur schreibe, weil es was zu gewinnen gibt. Aber ich will! Und ich will mich auch bei Dir bedanken rotebrauseblogger. Du machst eine phantastische Arbeit hier. Ich lese nicht alles, aber immer wieder mal und immer gern. Dankeschön!

  3. Da die Erfindung des Libero immer wieder Werder Bremen zugeschrieben wird, muss ich angesichts meiner grün-weißen Vergangenheit so ein Buch wollen. Und weil Werder just am Tag meiner Hochzeit die Meisterschale überreicht bekam (kann ich zur Not beweisen), sage ich laut und deutlich: JA, ICH WILL!

  4. Ich auch! Falls ich gewinne hast du gleich mehrere Blogversteher gewonnen: meine Frau, mich und in ein paar Jahren unsere Kinder. :-)

  5. Sensationeller Blog, den ich regelmäßig lese. Danke dafür.

    Das Buch interessiert mich kein Stück. Solltest du es mir aufzwingen würde ich aber nicht nein sagen und es verschenken. Du würdest also einen Nichtblogleser glücklich machen. Denk mal drüber nach was das für dein Karma bedeuten würde…;-)

  6. Bildung schadet nie, zumal ich auch noch Lücken habe was Taktiken angeht ;-) Ich würd mich auch sehr über das Buch freuen. Vill. versteh ich dann besser was Herr Rangnick da so fabriziert und reg mich weniger auf ;-) beziehungsweise nächste Saison der Herr Hasenhüttl

  7. Normalerweise sollte man sich für ein Lotteriespiel, das mit keinem Einsendeschluss versehen ist und auch schon genügend Mitspieler erkennbar sind, bei einer Beteiligung nicht allzu große Chancen für eine engere Auswahl ausrechnen. Ich will es doch, weil andererseits bereits jetzt schon erkennbar ist, dass lediglich bisher nur noch zwei andere Mitbewerber die beiden einzigen strengen Bedingungen für den eventuell möglichen Hauptgewinn beachteten und damit bereits, neben meiner Wenigkeit, allein im Rennen verblieben sein dürften!

    Natürlich gibt es dabei für mich eines: „Ich will mich bei diesem Thema in erster Linie unbedingt weiterbilden, weil oftmals die Verwunderung groß ist, mit welchen Methoden und Systemen verschiedene Mannschaften immer zu ihren Erfolgen kamen. Dafür wäre ein entsprechender Ratgeber eines Experten in Buchform genau das Richtige!

    Ich will ohne schleimen oder einen sonstigen Vorteil ergaunern zu wollen, mit der hiermit erfolgten offiziellen Teilnahme gleichzeitig dem fleißigen und schlauen Autoren, “RBB”, eine ehrliche Anerkennung für seine stets ausführlichen und sachgerechten Vor-, Nach- sowie Nebenbetrachtungen des leipziger und gegnerischen Fußballgeschehens zollen, die hoffentlich auch die kleine schmalbrüstige, derzeit aus lediglich nur 17 (!) Personen bestehende stimmberechtigte Mitglieder- sowie zu erwartende kaum zu zählende riesige Zuschaueranzahl des neuen Erstligisten, “Rasenballsport” Leipzig, mit nur einem rekordverdächtigen 1 %-igen (!) Gesellschaftsanteil zu schätzen weiß……

  8. Herzlichen Glückwunsch für den Preis, Christopher!

    Als eifriger Mitbewerber für den Gewinn dieses bestimmt besonders als inhaltlich wertvoll zu betrachtendes Freiexemplars, warst Du aber ganz schön vom Glück begünstigt, dass die Jury scheinbar unbewusst Dich auswählte, obwohl Deineseits keine der exakt geforderten und besonders gekenntzeichneten drei Varianten gewählt wurde…….

    Man muss eben auch einfach mal “Schwein” haben!

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