Vor reichlich drei Wochen gab es an dieser Stelle einen ausführlichen Überblick über den Kader von RB Leipzig. Damals, vor Beginn der Testspiele und mit einer noch lange nicht geschlossenen Transferliste, mit dem Makel, dass das zukünftige Spielsystem, die vorgesehenen Positionen für die Neuzugänge Fandrich und Morys und mögliche weitere Neuzugänge noch nicht klar waren.
Inzwischen weiß man zumindest, dass es keine weiteren Neuzugänge gab, wenn man mal davon absieht, dass Medienberichte den polnischen Nachwuchsnationalspieler und Offensivmann Vincent Rabiega als Neuzugang von Hertha BSC vermelden. Wobei für mich klar scheint, dass dieser 17jährige Neuzugang bis auf weiteres im Nachwuchs (bspw. in der U19, die ja noch mal Richtung Bundesligaaufstieg angreifen soll) auftauchen und für die Profimannschaft kein Thema sein wird.
Zudem weiß man inzwischen, dass Clemens Fandrich auf allen offensiven Mittelfeldpositionen ein Thema ist, also auf der 10 eingesetzt werden könnte, aber auch als Alternative für die linke und vor allem die rechte Seite vorgesehen ist. Die einzige Position, die er wohl kaum bekleiden wird, ist die zentrale Sechs im 4-3-1-2 oder eine der beiden flachen Sechserpositionen im 4-4-2. Und bei Matthias Morys ist zwar ein Auftauchen als Stürmer wahrscheinlicher, aber auch den Linksaußen in besagtem 4-4-2 kann man sich vorstellen und hat er bei RB Leipzig in der Vorbereitung schon gespielt.
Womit wir bei bereits bei den taktischen Formationen sind, von denen natürlich die jeweilige Besetzung der Positionen auch wesentlich abhängt. Aktuell hängt RB Leipzig an zwei Formationen, die vergleichsweise deutliche Unterschiede in den Aufgaben der jeweiligen Positionen (vor allem auf den Außenbahnen) mit sich bringen. Einerseits das aus der Vorrunde bekannte 4-3-1-2, das inzwischenen eine leichte Tendenz zur Raute bekommen hat. Sprich die beiden äußeren Spieler in der Dreierkette im Mittelfeld agieren etwas vor dem zentralen Sechser. Wobei die Betonung auf dem Wörtchen etwas liegt und die jeweilige Positionierung der Spieler im Mittelfeld zueinander von der jeweiligen Spielsituation abhängt.
Jedenfalls neigt der eine oder andere in der öffentlichen Kommunikation dazu, dieses System als 4-4-2 zu bezeichnen, was natürlich nicht ganz falsch ist, weil das System ja auch durch vier Mittelfeldakteure gekennzeichnet ist. Andererseits scheint mir der Begriff 4-4-2 doch stärker auf ein System mit flacher Doppelsechs oder auf eine klassische Raute (die man aber besser mit 4-1-2-1-2 bezeichnen würde) zu verweisen. Das 4-3-1-2 scheint mir aber mit der Position der beiden äußeren Mittelfeldspieler doch insgesamt näher an den drei Sechsern als an der Raute, sodass auch diese Notation die passendere ist.
Während mir das 4-3-1-2 vor allem auch ein System zu sein scheint, mit dem man nicht nur im Spiel gegen, sondern auch im Spiel mit dem Ball punkten will, ist das 4-4-2 mit Doppelsechs bei RB Leipzig als eine Art kompaktes System intendiert, mit dem man insbesondere bei eigener Führung und aufrückender Gegnerschaft kompakt gegen den Ball arbeitet und bei Ballgewinn über schnelle Außen oder Stürmer den direkten Weg zum Tor sucht. Das gilt natürlich auch für das 4-3-1-2, aber dort nicht in so starkem Ausmaß, weil die äußeren Mittelfeldspieler nicht den selben, nahen Weg zum Tor haben wie im 4-4-2.
In den Freundschaftsspielen hat sich weitestgehend geklärt, welche Kaderoptionen Alexander Zorniger derzeit sieht, also welche Spieler potenziell welche Positionen in welchem System belegen könnten. Dabei sei vorneweg erwähnt, dass mit Matthias Hamrol und Andreas Kerner zwei Torhüter dauerhaft aus dem Profitraining in die U23 gesteckt wurden, damit die Profis mit nur drei übrig bleibenden Keepern vernünftig trainieren kann.
Zudem wurden beim abschließenden Testkick am Wochenende gegen den TSV Buchbach von den nach der Verletzung von Dominik Kaiser zur Verfügung stehenden 21 Feldspielern nur 18 in den Kader berufen. Man darf es als deutliches Zeichen sehen, dass die drei an diesem Tag zur U23 geschickten Spieler aktuell schlechte Karten haben, überhaupt in den Pflichtspielkader berufen zu werden. Zumal ja von den 18 Spielern auch noch zwei zum Pflichtspielstart weichen müssen.
Sprich für Marcus Hoffmann und Tom Nattermann ist der Weg in die Regionalliga aktuell wenig überraschend ein weiter, während Paul Schinkes Nichtberufung angesichts seiner wichtigen Rolle in der Hinrunde überrascht. Aber offenbar hat es Schinke nach seiner Auswechslung im Freundschaftsspiel gegen Verl nach bereits 20 Minuten, als Zorniger ziemlich sauer war, nicht geschafft, den Coach im Trainingslager von seinen Qualitäten zu überzeugen. Da es mit Fandrich und Morys für die linke Seite je nach Spielsystem neben Heidinger und Schulz auch weitere Alternativen gibt, entsteht da aber auch kein größeres Loch.
Auf den einzelnen Positionen sehen die Optionen derzeit ungefähr so aus (eine (ausführliche) Analyse in der Betrachtung des Kaders von RB Leipzig von Anfang Januar, hier nur ein paar Aktualisierungen):
Tor: Fabio Coltorti (32 Jahre), Benjamin Bellot (22), Erik Domaschke (27), Matthias Hamrol (19), Andreas Kerner (24)
Rechtsverteidiger: Christian Müller (29 Jahre), Patrick Koronkiewicz (21)
Innenverteidiger: Niklas Hoheneder (26 Jahre), Tim Sebastian (29), Fabian Franke (23), Marcus Hoffmann (25), Henrik Ernst (26)
In der Innenverteidigung scheint Fabian Franke aktuell von seiner bisher unumschränkten Stammposition gerutscht zu sein. Aber das Rennen zwischen ihm und Tim Sebastian (und auch Niklas Hoheneder) dürfte ein sehr enges sein.
Linksverteidiger: Juri Judt (26 Jahre), Umut Kocin (24), Paul Schinke (21)
Rechtes Mittelfeld: Timo Röttger (27 Jahre), Clemens Fandrich (22), Bastian Schulz (27), Carsten Kammlott (22),Tom Nattermann (19), Henrik Ernst (26), Sebastian Heidinger (27), Paul Schinke (21), Patrick Koronkiewicz (21)
Zentrales Mittelfeld (defensiv): Dominik Kaiser (24 Jahre), Jeremy Karikari (25), Henrik Ernst (26), Bastian Schulz (27), Thiago Rockenbach (28), Tim Sebastian (29)
Im defensiven Mittelfeld scheint sich hinter dem verletzten Dominik Kaiser aktuell Jeremy Karikari an Henrik Ernst vorbei ins Team geschoben zu haben. Was ein wenig überraschend kam. Was aber nicht erstaunlich ist, wenn man bedenkt, dass in der angedeuteten Raute, die RB im letzten Test spielte, Karikari den zentral-alleinigen Sechser spielen kann. Jene Rolle, in der er als Spieleryp am stärksten ist. Trotzdem dürfte Henrik Ernst nicht sehr weit weg sein von Karikari.
Linkes Mittelfeld: Bastian Schulz (27 Jahre), Sebastian Heidinger (27), Clemens Fandrich (22), Paul Schinke (21), Matthias Morys (25), Thiago Rockenbach (28), Dominik Kaiser (24), Jeremy Karikari (25), Timo Röttger (27)
Im linken Mittelfeld hat sich Paul Schinke wie bereits erwähnt ein wenig aus dem Blickpunkt geschossen.
Dafür tauchte überraschend Bastian Schulz in der Generalprobenstartelf auf. Wobei Sebastian Heidinger mit den Hufen scharren dürfte und auch Clemens Fandrich eine Option wäre. Wäre das Spielsystem ein 4-4-2 mit Doppelsechs statt eines 4-3-1-2, dann darf man recht sicher sein, dass die Position links nicht von Schulz, sondern von Morys oder Heidinger oder auch Fandrich besetzt würde.
Zentrales Mittelfeld (offensiv): Thiago Rockenbach (28 Jahre), Clemens Fandrich (22), Timo Röttger (27), Dominik Kaiser (24), Tom Nattermann (19)
Sturm: Daniel Frahn (25 Jahre), Carsten Kammlott (22), Matthias Morys (25), Stefan Kutschke (24), Tom Nattermann (19)
Im Sturm hat sich durch eine starke Vorbereitung tatsächlich Carsten Kammlott ins Team geschoben. Wobei man hier abwarten muss, wie Kammlott diese Form auch in Pflichtspiele retten kann. Dahinter warten bereits Neuzugang Matthias Morys und die alte Stammkraft Stefan Kutschke auf Einsätze. Während Morys auch noch auf Einsätze als Linksaußen im 4-4-2 hoffen darf, bleibt für Kutschke aktuell nur die Rolle als Ergänzung in Situationen, in denen Körpergröße und Robustheit gefragt ist, also vermulich vornehmlich in Situationen, wenn die Mannschaft in Rückstand geraten ist und eine massive Abwehr durchbrechen muss. Aber abwarten. Wenn man in den letzen 2,5 Jahren etwas gelernt hat, dann dass man Stefan Kutschke nie abschreiben sollte.
Nimmt man die aktuell möglichen Systeme und die aktuell zur Verfügung stehenden Spieler (Kaiser ist ja auf unbestimmte Zeit verletzt), dann ergeben sich folgende Möglichkeiten (in Klammern jeweils Alternativen, die aktuell recht nah dran sind):
4-3-1-2 (mit Andeutung einer Raute): Coltorti – Müller, Hoheneder (Sebastian), Sebastian (Franke), Judt – Röttger (Fandrich), Karikari (Ernst), Schulz (Heidinger) – Rockenbach – Kammlott (Morys, Kutschke), Frahn
4-4-2 (Doppelsechs): Coltorti – Müller, Hoheneder (Sebastian), Sebastian (Franke), Judt – Röttger (Fandrich), Karikari (Ernst), Rockenbach (Schulz), Heidinger (Morys) – Kammlott (Morys, Kutschke), Frahn
Man darf schon jetzt gespannt sein, wer beim Wettbewerb um die Kaderplätze durchfallen wird. Kammlott, Fandrich und Bellot sind aufgrund der U23-Regel gesetzt. Entweder Patrick Koronkiewicz oder Paul Schinke kommen zur Erfüllung der Regel noch dazu. Plus Coltorti, Müller, Hoheneder, Sebastian, Judt, Röttger, Karikari, Schulz, Rockenbach und Frahn, die neben Kammlott vermutlich die 4-3-1-2-Startelf in Berlin bilden werden, macht bereits 14 besetzte Plätze. Von 18 verfügbaren. Sodass aus dem Kreis Franke, Ernst, Heidinger, Morys, Kutschke und Kocin gleich zwei Spieler in den extrem sauren Apfel Tribünenblick beißen werden. Und zu vermuten ist, dass die Wahl auf einen der beiden Stürmer und auf Umut Kocin fällt.
Sucht man den Stamm der Mannschaft, dann kann man festhalten, dass mit Coltorti, Müller, Judt, Röttger (wenn seine Athletik den Ansprüchen des Trainers genügt) , Kaiser (wenn wieder gesund und fit), Rockenbach (auf der 10) und Frahn im Optimalfall bereits sieben Positionen fest vergeben sind. Zwei weitere Positionen machen Hoheneder, Sebastian und Franke unter sich aus, sodass anschließend nur noch zwei zu besetzende Plätze auf dem Feld bleiben. Es wird für einige Spieler schon eine sportliche Aufgabe werden, überhaupt in die Startformation zu gelangen. Auch Spieler, die in der Hinrunde noch relativ regelmäßig gespielt haben (Schinke, Kutschke).
Fazit: Der Kader von RB Leipzig ist auf fast allen Positionen doppelt bis hin zu dreifach besetzt. Qualitativ derart besetzt, dass wohl jeder Spieler im Kader in einem anderen Team der Regionalliga Nordost zum Stammspieler avancieren könnte. Lediglich auf der Linksverteidigerposition ist angesichts dessen, dass hier ein Rechtsfuß die Position bekleidet, noch Luft nach oben. Wobei die Frage ist, ob Umut Kocin als gelernter Linksverteidiger hier noch mal angreifen kann.
Es gibt im Kader einerseits viel unübersichtliches Gedrängel, das potenziell auch in Frust umschlagen kann. Andererseits gibt es aber auch eine klare Struktur. Man könnte es Hierarchien nennen. Denn das Gerüst der Mannschaft steht und wird auch (wenn das Team von Verletzungen verschont bleibt) bestehen bleiben. Was letztlich für die Eingespieltheit und die letzten fünf Prozent, die man für die mögliche Relegation gut gebrauchen kann, prima, aber für die Breite des Kaders bei maximal noch 20 Pflichtspielen (16 x Liga, 2 x Relegation, 2 x Sachsenpokal) keine gute Nachricht ist.
Zu erwarten ist, dass es in der Rückrunde die Präferenz bei einem neuerdings leicht zur Raute hin interpretiereten 4-3-1-2 verbleibt, das 4-4-2 mit Doppelsechs gerade im Hinblick auf die Relegation, wo ein 4-4-2 eventuell eine ziemlich gute taktische Idee sein könnte, aber deutlich höhere Spielanteile bekommt. Das Stichwort für die Rückrunde heißt also Erhöhung der taktischen Variabilität bei breiteren individuellen Möglichkeiten. Nimmt man die letzten drei Vorbereitungsspiele als Maßstab, dann ist man auf einem sehr guten Weg. Aber was das alles wirklich Wert ist, wird sich erst in den Pflichtspielen zeigen. Die Spannung steigt jedenfalls.