Am Ende war es nicht mehr wirklich überraschend, dass Ralf Rangnick vor zwei Wochen als neuer Cheftrainer vorgestellt wurde. Letztlich ging es in der Gesamtschau nur darum, eine Konstruktion zu finden, die Rangnick und seine wichtige Funktion, nach innen und außen einer Übergangsjahrlösungswahrnehmung entgegenzutreten, beinhaltet und gleichzeitig seinen Job als Trainer und paralleler Sportdirektor machbar macht.
Vielleicht ein wenig erstaunlich an der letztlich gefundenen Konstruktion, dass Jesse Marsch den Co-Trainer macht. Gar nicht so sehr, weil man ihm bei RB Leipzig aufgrund der mit dem Job verbundenen Anforderungen an Sprache und Detailkenntnis in Europa den Cheftrainerposten noch nicht richtig zutraute. Sondern weil Marsch sich mit dieser Rolle zufrieden gab. Letztlich scheint ihm, die Möglichkeit hinter Rangnick zu lernen, offenbar ausreichend, um den Schritt von der MLS nach Europa zu machen. Vermutlich wird er zumindest in der Trainingssteuerung auch genug Möglichkeiten haben, sich verantwortlich einzubringen.
Dass Marsch nach seiner Ankunft gleich ein eigenes Pressegespräch bekam, verweist auch darauf, dass man ihn vereinsseits offenbar gern in ein prominentes Licht rücken würde, um ihn auch für mögliche weitere Schritte in Europa interessant zu machen und ihn etwas seiner Co-Trainer-Rolle zu entheben. Dass Marsch in Leipzig bis 2019 unterschrieben hat, dürfte dabei lediglich formellen Wert haben und im kommenden Sommer kein Hindernis sein, wenn andere Aufgaben wie zum Beispiel (kleines Gedankenspiel) in Salzburg, falls dort Marco Rose aufhört, auf die Agenda rücken. Der Zweijahresvertrag dürfte entsprechend eher eine finanzielle Versüßung für den Schritt nach Europa sein.
Ein wenig erinnert die aktuelle Situation bei RB Leipzig weiterhin an 2015, als Ralf Rangnick das letzte Mal den Verein interimsweise übernahm. Auch damals war der Schritt mit einem gewissen Umbruch verbunden und wurde das Trainerteam komplett neu zusammengestellt. Auch diesmal ist von den Co-Trainern bis hin zum Athletiktrainer einiges an Veränderungen passiert und wird sich das Team um das Team komplett neu aufstellen.
Dazu kommt wie 2015 ein Umbruch im Kader. Diesmal vielleicht angesichts der erst drei Neuzugänge keiner, der sich bisher extrem anfühlt. Aber die Aufgabe wird 2018 wie 2015 eine ähnliche sein und darin bestehen, dem Team ein neues Gesicht zu geben und in bestehende Hierarchien einzugreifen. Hasenhüttl tat sich diesbezüglich genauso schwer wie einst Zorniger bzw. agierten beide diesbezüglich mit eher ruhiger Hand. Rangnick ist da in seiner Fokussierung auf sportliche Qualität die etwas radikalere Natur und moderierte dies 2015/2016 sehr gut. Egal, was man über das Zweitligateam damals sagen mochte. Nach dem in Sachen Zusammenhalt und Gruppenstruktur schwierigen halben Jahr unter Beierlorzer wuchs unter Rangnick wieder ein Team zusammen, das einige Spiele über Mentalität und nicht zwingend über Qualität entschied.
Entsprechend dürfte Ralf Rangnick auch diesmal die Lösung mit dem geringsten Risiko sein, wenn es um den sportlichen Erfolg von RB Leipzig geht. Rangnick kennt alle Spieler im Team auch dadurch sehr genau, weil er sie alle geholt hat. Er hat auch bei jungen Spielern einen sehr guten Ruf und genießt eine gewisse Autorität. Wenn er bei seinem Weg, wieder mehr auf gymnasiale Pädagogik (Handys weg in der Umkleide, Franzosen auseinandersetzen) zu setzen, nicht die modernen Fußballerkids verliert, dann dürfte das in Bezug auf Gruppendynamiken alles recht gut funktionieren.
Die Frage, die bleibt, besteht halt darin, worin sich RB Leipzig spieltaktisch entwickeln wird. Ralf Rangnick hat bereits angekündigt, dass man sich breiter aufstellen wird und auch die Dreierkette künftig zum Repertoire gehören soll. Was bereits dahingehend interpretiert wurde, dass dies ein erster Schritt hin zu Julian Nagelsmann als künftigem RB-Trainer sei, weil der schließlich auch viel mit der Dreierkette spiele.
Das ist natürlich erstmal eine sehr vage Interpretation, weil es sehr verschieden Möglichkeiten gibt, die Dreierkette zu spielen. So wie Hasenhüttl gegen die Bayern als 3-4-3-Ganzfeld-Pressing. Aber auch als tief verteidigendes Bollwerk, wie es auch ein Nagelsmann in der letzten Saison mit Hoffenheim immer mal drauf hatte.
Entsprechend sind die ganzen Notationen mit einer 3 oder eine 5 (wenn man die Dreierkette als Fünferkette notieren will) vorn erstmal nur Zahlen. Interessanter ist dann schon, was sich dahinter verbirgt und wohin Ralf Rangnick spieltaktisch will, wenn er davon spricht, dass man wieder zurück zur Saison 2016/2017 will, als man im ersten Bundesligajahr für das perfekte Spiel gegen den Ball gelobt wurde.
Heißt das einfach, dass man noch mal an den defensiven Strukturen feilt? Soll das heißen, dass man wieder stärker ein bedingungsloses Pressing spielt, das in der zweiten Liga oft zu größeren Lücken zwischen den Ketten führte und gerade in Spielen wie in Freiburg oder in Nürnberg oder in Paderborn zum Problem wurde? Oder soll es genaugenommen eine Absage an Ballbesitzsysteme sein?
Gerade letzteres wäre im Übergang zu Nagelsmann überraschend. Denn der Hoffenheimer Coach steht sehr deutlich für eine spieltaktische Entwicklung, die sehr klar auch (neben den Umkehrspielsituationen) auf Ballbesitzstrukturen zielt, bei denen man aber trotzdem das Tempo im letzten Drittel nicht verliert. Da ist auch viel Maurizio Sarri drin. Also Bälle an den Strafraum, abklatschen lassen, einlaufen, Ball tief spielen, den gegnerischen Strafraum gut besetzen und gleichzeitig bei Ballverlust im Positionsspiel so zu stehen, dass man sofort ins Gegenpressing kommt.
Wenn man jetzt bei RB Leipzig wieder den radikalen Schritt zum Pressing- und Umschaltfußball machen würde, dann wäre es genaugenommen nicht der logische Entwicklungsschritt hin zu Nagelsmann. Entsprechend wird es spannend, was die Rangnicksche Rückbesinnung auf die RB-DNA in der Praxis bedeuten wird. Aus der zweiten Liga weiß man noch, wie sehr man mit der Pressingidee an die Grenzen geriet, weil man im Ballbesitz gegen die ganzen dicht verteidigenden Teams kaum Lösungen fand und die Gegner es auch verstanden, RB die Räume und das Tempo in der Tiefe zu nehmen. In der ersten Liga haben viele Teams die Arbeit gegen den Ball auch zur Meisterschaft gebracht, sodass es dort nicht zwingend einfacher wird, wenn einem der Ball überlassen wird.
Die bisherigen Neuzugänge bei RB Leipzig verweisen jedenfalls darauf, dass man noch mal stärker auf Dynamik und Geschwindigkeit und nicht in erster Linie auf Passqualitäten setzt. Zumindest stehen die Namen Saracchi und Mukiele dafür. Auch hier wird interessant, wie das dann passt, wenn man Verteidigungsriegel bespielen muss. Schon in der Europa-League-Quali wird man davon einen ersten Eindruck bekommen.
Recht hat Ralf Rangnick in jedem Fall, wenn er davon spricht, dass man im Bereich der Standards besser werden muss. Das ist tatsächlich auch eine Lehre aus der WM, dass Standards bei Mannschaften, die alle gut verteidigen können, den entscheidenden Unterschied machen können. RB Leipzig war diesbezüglich auf den ersten Blick bei 13 Toren und 14 Gegentoren in der Vorsaison gar nicht so schlecht (Dortmund schoss zum Beispiel gerade mal neun Standardtore). Allerdings täuscht die Statistik ein wenig über die Ineffizienz bei ruhenden Bällen hinweg.
Als Team mit dem dritthöchsten Ballbesitz der Liga war RB letzte Saison automatisch in einer Situation, in der man potenziell mehr ruhende Bälle in der Nähe des gegnerischen Strafraums hatte als die jeweiligen Kontrahenten, ganz einfach weil man häufiger dort auftauchte. Allerdings gehörte man beispielsweise bei der Präzision der Ecken zur schlechteren Hälfte der Bundesliga, war also von Topniveau deutlich entfernt. Dass man sich nun insbesondere das englische Team bei der WM noch mal genauer anschaut, macht also absolut Sinn.
Sinn mach auch, dass man weiterhin auf junge Spieler setzt. Der Verkauf von Naby Keita zeigt, dass das auch wirtschaftlich eine wichtige Komponente ist, die überhaupt erst Spielraum für die aktuelle Transferperiode mit sich bringt. Oliver Mintzlaff benannte zuletzt in einem Interview mit Sponsors angenehm realistisch (im Gegensatz zu letztjährigen ‘Wir sind kein Verkäuferklub’-Proklamationen), dass Verkäufe von Spielern wichtig sind, wenn es um die Steigerung der Umsätze des Vereins geht. Gerade, wenn man mal die Champions League verpasst hat, möchte man hinzufügen. Aber auch generell gilt, dass ein Wachstum auf das Niveau von Borussia Dortmunds Umsätzen (und damit auch auf deren Möglichkeiten in Sachen Gehaltsstrukturen) nur langfristig und dann eben auch nur mit Transfereinnahmen zu machen ist.
Entsprechend führt wenig daran vorbei, dass man junge Spieler entwickelt und ihren Marktwert erhöht. Das bedeutet aber auch, dass man Talente finden muss, die schon früh das Niveau erreichen können, um Champions-League-Plätze mitzuspielen und auf dem Top4-Niveau Deutschlands mitzuhalten. Das ist die Herausforderung.
Interessanterweise verkaufte es Ralf Rangnick bei seiner Antritts-PK so, dass das Setzen auf junge Spieler nicht nur wirtschaftliche Notwendigkeit ist, sondern die WM auch zeige, dass junge Mannschaften mehr Erfolg haben können. Schließlich seien mit England und Frankreich die zwei jüngsten Turniermannschaften ins Halbfinale gekommen (und ist Frankreich später sogar Weltmeister geworden).
Mal davon abgesehen, dass mit Nigeria noch ein Team jünger war als das englische, ist der Vergleich zwischen Bundesliga und WM etwas irreführend. Denn die jüngste Startformation der Franzosen überhaupt war 24,6 Jahre alt. Die jüngste Startelf der Bundesliga hatte letzte Saison RB Leipzig mit 22,8 Jahren. Während die normalen französischen Teams bei der WM eine Startelfalter von reichlich 26 Jahren hatten (auch im Finale), lag der Schnitt bei RB Leipzig letzte Saison drei Jahre niedriger. Klar war das französische Team im Vergleich mit anderen WM-Mannschaften jung. Aber eben auch in einem Alterskorridor erfahren, mit dem man in der Bundesliga im oberen Altersdrittel gelegen hätte (für England gilt das ganz analog).
Sprich, das französische Team verfügte durchaus über einiges an auch internationaler Erfahrung, sodass die Analogie zu RB Leipzig ein wenig hinkt. Erfahrung bleibt über die Saison gesehen in vielerlei Hinsicht ein Faktor, der dann eben doch in entscheidenden Situationen zwei, drei Prozent mehr Leistungsvermögen mit sich bringt. Zumindest würde man nicht ernsthaft wegdiskutieren wollen, dass ein Spieler mit 26, 27 ein deutlich größeres Leistungsvermögen haben sollte als mit 21, 22.. Was aber eben nicht dagegen spricht, junge Spieler zu holen. Eben weil es wirtschaftlich Sinn macht und im Gesamtpaket für die Vereinsentwicklung positiv ist. Und weil man im Idealfall die jungen Spieler im breiteren Rahmen auch bis 26, 27 oder 28 im Verein halten und sich so ein Gerüst bauen kann.
Der Vorteil der Franzosen bei der WM war auch, dass ein junger Spieler wie Mbappe mit einem Talent ausgestattet ist, das ihn automatisch von einem normalen 19-Jährigen deutlich abhebt. Dass RB Leipzig auch Mbappe vor ein paar Jahren auf der Rechnung hatte, zeigt halt nur, dass man versucht im ganz extremen Talentpool zu fischen und dann eben auch mit 19-Jährigen so viel Talent an Bord zu haben, wie es andere auch mit 26-Jährigen nicht schaffen können. Das hat halt allerdings auch den Nachteil, dass man dadurch vor allem Spieler bekommt, die RB Leipzig als nächsten Karriereschritt sehen und nicht als Verein, bei dem sie sagen wir 28 werden wollen.
Interessant auch Ralf Rangnicks intensive Absage an Ballbesitzfußball auf der Basis der Beobachtungen der WM. Auch hier gilt wieder, dass der Vergleich von Ligafußball mit einer WM schwierig ist. Ganz einfach weil die Vorbereitungszeit auf das WM-Turnier viel zu kurz ist, um gut funktionierende Ballbesitzmuster mit Zug zum Tor und Geschwindigkeit im vordersten Drittel einzustudieren, wie man sie eben von den Nagelsmanns und Sarris an guten Tagen kennt (und selbst Nagelsmann musste in der letzten Hinrunde erkennen, dass im Rhythmus der englischen Wochen eine Abkehr vom Ballbesitz zielführend ist, weil man die entsprechenden Strukturen nicht gut genug einstudieren kann unter der Woche).
Wenn das bei einer WM dann auch noch auf Teams trifft, die in der Kürze der Zeit das machen, was sich viel einfacher trainieren lässt, nämlich gut gegen den Ball arbeiten und verteidigen, dann läuft man schon mal schnell in die Falle des Ballbesitzfußballs. Im Ligaalltag mit eingespielteren Mannschaften sehen die Dinge dann aber doch immer noch mal ein bisschen anders aus, sodass funktionierender Ballbesitz (und sei es, um sich Standards am gegnerischen Strafraum zu erarbeiten) eine andere Wichtigkeit bekommt.
Auch eine Dreierkette ist ja prinzipiell darauf angelegt, noch mal bessere Strukturen in der Spieleröffnung zu haben. Dass man die Mittelposition in der Dreierkette mit Spielern wie Kevin Vogt (Hoffenheim) oder Makoto Hasebe (Frankfurt) besetzt, zeigt ja auch, dass man von hinten heraus quasi einen zusätzlichen Spielgestalter als eine Art Quarterback installiert statt eines dritten Hardcore-Innenverteidigers (was prinzipiell aber natürlich auch möglich ist).
Interessant in dem Zusammenhang vielleicht auch der Verweis auf die wegen ihrer Jugend gelobten Engländer. Eine Mannschaft, die bei der WM sehr über Standards und Stabilität kam. Eine Mannschaft, die unter die ersten Vier kam, aber die für Trainer Gareth Southgate noch keine Top4-Qualität hatte. Und der genau darum weiß, dass es im nächsten Schritt um eine Entwicklung hin zu mehr Eigenaktivität geht. “Ich will, dass wir agieren. Wenn wir an unsere starken Techniker glauben, sollten wir, gepaart mit der richtigen Taktik, in der Lage sein, gegen jede Mannschaft dominant aufzutreten. Im Jugendbereich sehen wir da schon Erfolge, jetzt geht es darum, das ins A-Team zu transferieren”, bekennt er sich dort zu einer Entwicklung hin zu einem erfolgreichen Spiel auch aus dem Ballbesitz heraus.
Letztlich sind die Fragen um Ballbesitz, Umschaltfokus und Vereinsentwicklung in der Saison vor Nagelsmann zu diesem Zeitpunkt noch sehr theoretisch. Es gibt die Rangnicksche Absichtserklärung, vor allem das Spiel gegen den Ball, die Standards und den Teamzusammenhalt deutlich zu verbessern (was eine durchaus bemerkenswert deutlich andere Positionierung ist als das Hasenhüttlsche ‘wir müssen am Positionsspiel im Ballbesitz arbeiten’ vor einem Jahr). Was das dann in der Praxis bedeutet und welche Anpassungen man im Saisonverlauf vornehmen muss, muss man abwarten und wird auch daran liegen, ob man in die Gruppenphase der Europa League einzieht oder nicht.
Fliegt RB Leipzig in einer der Quali-Runden raus, dann hat man im Saisonverlauf wesentlich bessere Möglichkeiten, dauerhaft ein intensives Pressing zu spielen, als wenn man im Sonntag-Donnerstag-Sonntag-Rhythmus unterwegs ist. Interessanter wäre entsprechend, wenn RB in die Europa-League-Gruppenphase einzieht, weil sich dann die taktischen Entwicklungen im harten Alltagstest beweisen müssten. Aber auch so darf man gespannt sein, welchen Entwicklungen die Saison begleiten und an welchen Punkten man eventuell an Grenzen stößt. Guten Ballbesitz mit Lösungen im letzten Drittel und guter Absicherung bei Ballverlust wird man in jedem Fall brauchen, wenn man Erfolg haben will.
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