“Bundesliga”, “ganz großes Kino”, “etwas Besseres habe ich hier in den letzten zwei Jahren nicht gesehen”. Fast schon elogenhaft ging es nach dem 1:0 von St. Pauli gegen RB Leipzig am letzten Wochenende aus den Mündern von Lienen und Meggle zu. Und wenn man dem im neuen Job zu Hause angekommenen Lienen vor der Partie beim Runterrattern des RB-Kaders zuhörte, dann konnte man glauben, dass er sich selbst gegen die Leipziger U19-Spieler noch als krasser Außenseiter gesehen hätte.
Macht aus Sicht eines Coaches durchaus Sinn, wenn man den Gegner als herausragend stilisiert und die eigene Mannschaft dadurch in die drucklose Underdog-Position schiebt. Dirk Schuster hat es ja letzte (und vorletzte) Saison ähnlich gehalten und bis runter zu Aalen praktisch jeden Gegner zu einem fast schon übermächtigen gemacht, gegen den nur einen Punkt zu holen, schon ein Erfolg wäre im Kampf gegen den Abstieg, in dem man sich ungefähr bis kurz vor dem 34.Spieltag befand. Jeder Sieg muss dann entsprechend eine überragende Leistung gewesen sein.
Ist halt alles irgendwie auch eine Frage von Psychologie und es lebt sich leichter, wenn man jeden Sieg nicht nur als Selbstverständlichkeit abhaken, sondern als besonderes Ereignis ausschlachten und fürs eigene Selbstvertrauen nutzen kann. Erstaunlich bleibt es trotzdem, welche Potenz man gerade RB Leipzig (um zum RasenBallsport zurückzukommen) immer wieder zuschreibt. Erinnert ein bisschen an antisemitische Projektionen, bei denen den Juden ein übermenschliches Maß an Leistungskraft und Einfluss auf den Lauf der Dinge der Welt zugeschrieben wurde und wird (siehe dazu die Anmerkung in den Kommentaren).
Das in seiner Mischung aus sportlicher und wirtschaftlicher Übermacht Unbesiegbare in Fußballgestalt namens RB Leipzig trotzdem besiegt. Erzählt sich auch besser als die Geschichte, dass man als Vierter durchaus auch mal den Ersten schlagen kann. Zumal wenn man ein bisschen Glück auf seiner Seite weiß. Und auf der anderen Seite nicht Messi steht, sondern in der Startformation mit Marvin Compper exakt eineinhalb Spieler mit Erfahrung in den großen europäischen Fußballligen (einhalb, weil Kaisers Erfahrungen in Hoffenheim überschaubarer Natur waren).
Die Frage ist halt, was von dieser Geschichtsschreibung in die Köpfe der RasenBallsportler sickert. Sprich, ob sie sich zu Tode lobhudeln lassen, bis sie selbst glauben, dass die Aufstiegsdinge von Woche zu Woche schon irgendwie von selbst ihren Lauf nehmen werden, weil man ja eigentlich so gut sei. Es gibt psychologisch wenig schlimmeres als permanent zu hören, dass man auf jeden Fall seine sportlichen Ziele erreichen wird. “Wenn sie so weiterspielen, werden sie auf jeden Fall Erfolg haben.” Ein Satz, angesichts dessen unterschwellig vergifteten Kompliments man sich besser die Ohren zukleben sollte. Frag nach bei 1860 und Co.
Nicht ganz uninteressant, dass die Tabellensituation in der aktuellen zweiten Liga praktisch identisch ist mit der vor einem Jahr, als Ingolstadt nach 21 Spielen mit 43 Punkten fünf bzw. sechs Punkte vor den Plätzen zwei und drei lag und sich hinter dem FCI ein Pulk von fünf Teams, die durch sechs Punkte getrennt waren, befand, die ernste Aufstiegshoffnungen hegten. Bis auf Braunschweig sind die Teams auf den ersten sechs Plätzen diese Saison neu und RB Leipzig hat einen Punkt mehr als Ingolstadt einst. Ansonsten ist das Setting an der Tabellenspitze vor dem 22.Spieltag exakt dasselbe. Merkwürdige Laune des Zweitligagotts.
Auch Ingolstadt kam letztes Jahr mit einem überzeugenden Sieg aus der Winterpause. Auch Ingolstadt hatte über den Winter und nach diesem Sieg vielleicht einmal zu oft gehört, dass ihnen der Aufstieg nicht mehr zu nehmen sei und dass es ganz schön krass ist, mit welcher Dominanz und Überlegenheit sie durch die Liga pflügen. Eine Niederlage im zweiten Spiel nach dem Winter und sechs Spiele mit nur einem Sieg waren die direkte Folge.
Hier ein kleines Prozent weniger als in dier Hinrunde, dort ein bisschen Pech und schon war man mit sechs Punkten aus sechs Spielen nur ein Team von vielen, bevor man wieder auf Kurs kam und unter anderem durch ein emotionales Highlight wie ein spätes 3:2 gegen Düsseldorf in die Spur fand. Glück für Ingolstadt vor einem Jahr, dass die Konkurrenz genau in dieser Schwächephase auch nicht gerade herausragend war und sie von ihren neun Punkten Vorsprung auf Platz 3 in dieser Zeit nur fünf verloren.
Die Analogie hat natürlich deutliche Grenzen, weil man RB Leipzig und ihr vor allem der Jugend des Teams geschuldetes Entwicklungspotenzial und ihre indivdiuelle Klasse nicht mit dem aggressiven Mannschaftsverbund des FC Ingolstadt vor einem Jahr vergleichen kann und den Leipzigern im Ligaalltag von den Teams noch mal mit einer anderen Motivation begegnet wird als dem FCI. Mit Freiburg und Nürnberg mischen zudem oben Teams mit, die deutlich mehr Klasse und Ausgeglichenheit im Kader mitbringen als die Teams, die letzte Saison hinter dem Tabellenführer ihr Glück versucht. Mal ganz abgesehen davon, dass sich nur in den seltensten Fällen Dinge in komplett identischer Form wiederholen.
Interessant werden die nächsten Spieltage trotzdem. Sowieso weil es Pflichtspielalltag ist. Aber auch, weil man einen Fingerzeig bekommen wird, inwieweit die Lobhudelei, die RB Leipzig sportlich erfährt, etwas an ihrem Auftreten bzw. am Erfolg ändern wird. In der Vergangheit war RB Leipzig immer mal wieder anfällig für die ‘in neun von zehn Spielen haben wir keine Chance gegen die’-Rhetorik. Anfällig in dem Sinne, dass man dann das eine von zehn Spielen erwischte, in dem der angeblich nahezu chancenlose Gegner doch nicht chancenlos war. Ein Prozent weniger, weil man ja nur gegen die zweite Mannschaft von Club xy spielt. Ein Prozent weniger, weil man ja die deutlich höhere individuelle Klasse hat. Das läuft ja meist deutlich subtiler als ‘ich bin heute mal ganz überheblich gegen die’ zu sagen. Führt aber zu einem ähnlichen Ergebnis.
Christian Streich hatte nach dem Gastspiel in Leipzig mit seinem SC Freiburg sinngemäß gemeint, dass es für RB Leipzig schwer sei, fast immer gegen Gegner zu spielen, die deutlich über 100% ihrer normalen Leistungsfähigkeit auf den Platz bringen. Dass man dem RasenBallsport vielerorts eine im Zweitligavergleich fast schon übernatürliche sportlicher Potenz zuschreibt, führt (aus Leipziger Sicht leider) eben nicht dazu, dass die Gegnerschaft sich freiwillig ergibt. Soweit geht die Freundschaft zur Logik dann auch nicht, dass man angesichts der rhetorischen Übermachtsfigur wie Darmstadt vor dem Spiel bei den Bayern auf Selbstdezimierung und lockere Punkteübergabe macht. Ganz im Gegenteil, im ideologisch aufgeladenen Diskurs machen sich Siege gegen die (wahlweise seelenlose oder fußballzerstörende oder was auch immer) Potenz ja irgendwie auch besonders gut im Saisontagebuch.
In das auch der 1.FC Union Berlin am Wochenende ein paar schöne ‘Heute muss ich dir unbedingt was erzählen’-Zeilen schreiben und bunte Bildchen daneben kleben will. Man erwarte einen Gegner, der eine “gute bis sehr gute Erstliga-Mannschaft” habe, heißt es aus Berlin in Lewandowski-Potenzprojektionsdeutsch. Ist nicht mehr viel Luft hin zu Champions-League-Qualität. Kommt vielleicht noch in den nächsten Wochen..
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Tabelle 2014/2015 vor dem 22.Spieltag
- FC Ingolstadt: 43 Punkte
- 1.FC Kaiserslautern: 38 Punkte
- Karlsruher SC: 37 Punkte
- SV Darmstadt 98: 35 Punkte
- Eintracht Braunschweig: 33 Punkte
- Fortuna Düsseldorf: 32 Punkte
Tabelle 2015/2016 vor dem 22.Spieltag
- RB Leipzig: 44 Punkte
- SC Freiburg: 38 Punkte
- 1.FC Nürnberg: 37 Punkte
- FC St. Pauli: 36 Punkte
- VfL Bochum: 32 Punkte
- Eintracht Braunschweig: 32 Punkte
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22.Spieltag
- RB Leipzig – 1. FC Union Berlin – 1
- SpVgg Greuther Fürth – MSV Duisburg – 1
- FC St. Pauli – FSV Frankfurt – 0
- Karlsruher SC – Eintracht Braunschweig – 1
- 1. FC Kaiserslautern – 1. FC Heidenheim – 1
- TSV 1860 München – VfL Bochum – 2
- SV Sandhausen – SC Freiburg – 2
- Arminia Bielefeld – SC Paderborn 07 – 0
- Fortuna Düsseldorf – 1. FC Nürnberg – 1
Tippquote bisher: 74 von 189 (bei RB-Spielen: 8 von 21).
Der Bezug zu antisemitischen Verschwörungstheorien finde ich etwas zu heftig, selbst als Replik auf Linens “Kapital & Faschismus”-Zitat.
@aufziehvogel: Oh. Ist in dem Fall eher ein Vergleich auf formaler Ebene in Bezug auf die Überhöhung eines Gegenstands bzw. einer Gruppe von Menschen. Geht hier also gar nicht darum, die Antisemitismus-Schablone für das Verhalten gegenüber RB Leipzig anzulegen (oder Umgang mit RB Leipzig darüber generell zu desavouieren), auch wenn diese Überhöhung des Gegenstands bzw. einer Gruppe von Akteuren sicherlich anschlussfähig ist für allerlei Kram in die verschiedensten Richtungen.
Formale Ebene ist bei dem Thema eher schwierig. Da schwingt für mich automatisch die moralische Keule mit, ob man will oder nicht. Auch wenn man durchaus Bezugspunkte sehen kann, Stichwort: Struktureller Antisemitismus.