Zur fußballbezogenen Folklore gehört das Lamentieren über den Schiedsrichter während des Spiels unbedingt dazu. Im Fall der Fälle erzeugt man eine Grundstimmung, die den Spielleiter unterbewusst dazu bringt, die eine oder andere 50:50-Entscheidung mehr für das eigene Team zu pfeifen. Yordy Reyna erhielt beispielsweise in Kaiserslautern eine gelbe Karte, die man guten Gewissens als eine bezeichnen konnte, die eher für das Publikum und dessen Beruhigung als wegen eines schwerwiegenden Vergehens gezeigt wurde.
Das Schimpfen über Entscheidungen, die man im Fernsehbild in 70 bis 80% der Fälle absolut nachvollziehbar finden würde, gehört also dazu und macht auch durchaus Spaß. Kein Spaß macht allerdings das, was einem in der zweiten Liga Woche für Woche und Woche für Woche über die gesamte Saison begleitete. Nämlich auch nach den Spielen seitens von Vereinsverantwortlichen noch ganz fürchterlich darüber zu lamentieren, wer welchen ganz klaren Elfmeter nicht bekommen und welchen absoluten Nicht-Elfmeter gegen sich gepfiffen bekommen hat. Und oben drauf noch das Fanspiel auf diversesten Kanälen, dass es ganz bestimmt das eigene Team ist, das schon die ganze Saison von Schiedsrichterentscheidungen benachteiligt und somit am durchschlagenden sportlichen Erfolg gehindert wird.
Das Lamento mag bei einzelnen Entscheidungen natürlich berechtigt sein. Nur meist regiert das Kurzzeitgedächtnis, das die Fehlentscheidung zum eigenen Ungunsten sieht, über das Langzeitgedächtnis, das Fehlentscheidungen zu eigenen Gunsten gespeichert haben sollte (wobei man Fehlentscheidungen zu eigenen Gunsten der Einfachheit halber ganz gern auch mal ausblendet). Sprich, meist gleichen sich Glück und Pech in Bezug auf Schiedsrichterentscheidungen auf lange Sicht hin aus. Was auch ganz logisch ist, weil die Unparteiischen eben unparteiisch sind und ihre Wahrnehmungsfehler mal diesen und mal jenen treffen.
Schiedsrichter müssen binnen kürzester Zeit aus ihrem jeweiligen Blickwinkel, am besten noch aus dem Rennen heraus, beurteilen, ob sie nun pfeifen oder nicht pfeifen und im Fall der Fälle auch noch, für wen sie eigentlich pfeifen. Fehler im Sinne einer aufgrund des Fernsehbilds hergestellten Objektivität passieren da immer wieder und gehören dazu.
Genauso wie es dazugehört, dass ein Schiedsrichter mal mit seiner grundsätzlichen Spielleitung daneben liegt, wie ein Patrick Ittrich im Hinspiel zwischen Leipzig und Ingolstadt, als er im Duell zweier Zweikampf- und Pressingmaschinen eine kleinliche Spielleitung durchzusetzen versuchte (was von vornherein zum Scheitern verurteilt war). Oder ein Michael Weiner, wie beim Rückspiel in Ingolstadt, im Versuch abgeklärt zu wirken, die Grenzen hin zur Arroganz touchiert.
Es ist halt mit Schiedsrichtern nicht viel anders als mit Spielern, Trainern oder Zuschauern. Manchmal findet man sofort den Zugang zum Spiel und alles geht glatt. Und manchmal kommt alles zusammen und man findet keine Ebene mit den Spielern und entsprechend keine Akzeptanz für die eigenen Entscheidungen, sodass das Spiel ein wenig aus dem Ruder gerät. Oder man entscheidet eine von 100 Situationen falsch und plötzlich reden alle nur über diese Szene.
Letztlich bleibt das Gemaule und Gemurre über Schiedsrichterentscheidungen, wenn Journalisten, Fans oder Trainer nach der siebten Superzeitlupe feststellen, dass doch ganz klar der Ball gespielt wurde, langweilig. Weil es völlig vergisst, dass Schiedsrichterei eben keine Sache ist, bei der objektive Entscheidungen getroffen werden, sondern ein Mensch auf der Basis seines Sehorgans und der entsprechenden Fußballregeln das Gesehene interpretiert und bewertet.
Dabei gibt es natürlich über die Jahre trotz gleichbleibender Kernregeln sich verändernde Interpretationen. Ging es vor 20, 30 Jahren noch einigermaßen rustikal zur Sache auf dem Platz, wird inzwischen fast schon immer gepfiffen, wenn ein Kontakt vorliegt, bei dem ein Spieler zu Boden geht.Was natürlich dazu führt, dass Spieler das Suchen des Kontakts und das Fallen perfektioniert haben.
Das kann man natürlich kritisieren und sich gerade als zweikampfbetontes Team anders wünschen, aber man kann es nicht ignorieren. Denn die Richtung der Interpretationen der Regeln werden immer noch von den entsprechenden Verbänden und Kommissionen vorgegeben und sind keine Dinge, die sich Schiedsrichter mal eben ausdenken. Auch wenn sie sicherlich in vielen Situationen einen gewissen Ermessensspielraum nutzen können.
Es bleibt aber absurd, wenn Kaiserslauterns Keeper Marius Müller mit voller Geschwindigkeit und Füßen voran seitlich in den Richtung Tor sprintenden Marcel Heller reinrauscht, den Elfmeter gegen sich gepfiffen bekommt, weil es in Realgeschwindigkeit für den Schiedsrichterassistenten eben so aussieht, als würde er nicht den Ball treffen, sondern Heller abräumen bzw. dessen Verletzung beim Tackling in Kauf nehmen und Müller sich dann mit den Worten beschwert, dass man das eben in der Torwartschule Gerry Ehrmanns so lerne und er sein Spiel auch nicht ändern werde.
Was ja nicht anderes heißt, als dass der Spieler sagt, dass seine Interpretation der Spielregeln über der der Schiedsrichter steht und sich letztere an seine Spielweise anpassen müssten. Daraus wird aber ganz sicher kein Schuh, weil der Spieler immer am kürzeren Hebel sitzt. Und ein Marius Müller wie auch ein Yussuf Poulsen lernen muss, dass man sich mit seiner Spielweise an die Art des Pfeifens des Unparteiischen anpassen muss und es nicht andersherum passieren wird.
Davon abgesehen bleibt die grundsätzliche Philosophie der Schiedsrichterei schwer nachzuvollziehen. Hellmut Krug (Berater der DFL in Bezug auf das Schiedsrichterwesen und Schiedsrichtercoach) meinte in einem interessanten Beitrag beim in Sachen Schiedsrichterwesen Vorzeigepodcast Collinas Erben mal sinngemäß, dass es bei der Spielleitung darum gehe, ein perfektes Spiel zu pfeifen, auch wenn es das perfekte Spiel in der Praxis nie geben könne. Das Ziel ist also die Quadratur des Kreises, auch wenn man immerhin weiß, dass die Aufgabe nicht lösbar ist. Nicht unbedingt was für Logiker diese Denkweise.
Problematisch, dass man mit dieser Denkweise den Fehler begeht, eine objektiv stimmende Spielleitung als Ziel auszugeben, wo in der Praxis wie erwähnt nur subjektive Situationsinterpretationen auf Regelbasis drin liegen. Womit man in letzter Konsequenz dasselbe Spiel mitspielt, das auch Trainer beim Maulen über Schiedsrichterentscheidungen und Spieler auf dem Feld spielen. Den Schiedsrichter zur gottgleichen Instanz zu machen, für den man seine Zweikämpfe und sein Verhalten fast schon inszeniert und dem man manisch im Nachgang einer Partie Nichtgöttlichkeit nachweisen will.
Es ist genau diese von allen Seiten zugeschriebene und von den Unparteiischen wohl auch angenommene Rolle, die die Schiedsrichterei zu einer überschaubar freudvollen Freizeitbeschäftigung macht. Noch viel schlimmer ist aber fast, dass die Verantwortung für das Geschehen auf dem Platz dem Schiedsrichter zugeschoben wird, den man versucht mit seinem Tun zum Pfeifen oder eben nicht zum Pfeifen zu bringen und es für Spieler und Trainer meist nicht mehr darum geht, was sie getan oder nicht getan haben, sondern darum, wie es der Schiedsrichter bewertet hat.
Wenn es in diesem Zusammenhang ein Argument für den Videobeweis gibt, dann dass durch diese externe, quasi-objektive Bewertungsebene die Verantwortung für das Spiel und seine Umsetzung wieder zu denen zurückwandern würde, die es spielen (bzw. jene, die die Spieler trainieren) und der Schiedsrichter von seiner gottgleichen Rolle entlastet wird.
Denn welcher Spieler lässt sich im Strafraum fallen und wendet sich reklamierend an den Schiedsrichter, wenn er weiß, dass er binnen zwei Minuten des Schwindels überführt werden kann. Und welche Spieler wedeln wie Manuel Neuer permanent mit ihrem “Reklamierarm”, wenn sie beispielsweise über eine Challenge die Möglichkeit hätten, Situationen höchstoffiziell prüfen zu lassen.
Es soll und wird hier nicht im Detail um die Machbarkeit des Videobeweises gehen, weil das am Ende des Tages eine Frage der Organisation ist (und man ganz sicher Varianten implementieren könnte, die den Charakter des Spiels nicht wesentlich verändern). Und weil aktuell nicht absehbar ist, dass entsprechende Hilfsmittel überhaupt in absehbarer Zukunft auf der Agenda stehen.
Als Argument gegen technische Hilfsmittel wie den Videobeweis wird auch gern ins Feld geführt, dass doch die Diskussionen um Fehlentscheidungen das Salz in der Fußballsuppe sind. Genaugenommen sind sie allerdings das Salz in der Wunde. Zumindest wenn man es aus Sicht des Sports und nicht aus Sicht des Stammtischs sieht.
Denn nichts braucht man weniger, als sich eine nicht gesehene Abseitsstellung in einem Finale oder in einem Abstiegsendspiel dadurch schön zu reden, dass man am Montag auf Arbeit so herrlich darüber diskutieren könne. Sportler haben nur eine begrenzte Zeitspanne für die erfolgreiche Ausübung ihres Tuns. An Vereinen hängt in der Organisation (und im Fan-Umfeld) sehr viel dran. Im Entscheidungsraum zwischen Elfmeterpfiff und Nichtpfiff geht es um mehr als um ein Diskursthema für den Freizeitdebattierzirkel.
Am 34.Spieltag spielen neun von 18 Zweitligavereinen noch um Aufstieg oder Abstieg. Weswegen vermutlich auch noch intensiver Richtung Schiedsrichter gewedelt und gefallen wird und man im Nachgang der Partie schimpft als wäre der Schiedsrichter eine Maschine, die vermessen muss, ob Pappschachteln 60 cm lang sind oder nicht.
So lange man den Schiedsrichter auch von Seiten des Schiedsrichterwesens auf ein gottgleiches Entscheiderpodest hebt, wird sich daran wohl auch nichts ändern. Erst wenn man ihm die Möglichkeit der Fehlerhaftigkeit und des Zweifels auch von Vornherein einräumt, dies zum Teil des Spiels macht und den Spielern die Verantwortung für ihr Tun zurückgibt, könnte sich das ändern.
Bis dahin wird vermutlich nach den Spielen weiter über angebliche Benachteiligungen gemault. Emotional nachvollziehbar, wenn man am letzten Spieltag bspw. noch den Klassenerhalt verspielt (wobei man nie nur wegen einer Niederlage am letzten Spieltag absteigt) und eine umstrittene Entscheidung einen Anteil daran hatte. Aber durch die permanente Wiederholung ist das Lamento langweilig und trifft mit den Schiedsrichtern fast immer die Falschen.
—————————————————-
34. Spieltag
- 1. FC Nürnberg – VfR Aalen – 2
- 1. FC Kaiserslautern – FC Ingolstadt – 1
- Karlsruher SC – TSV 1860 München – 1
- Fortuna Düsseldorf – FSV Frankfurt – 1
- 1. FC Union Berlin – Eintracht Braunschweig – 1
- VfL Bochum – SV Sandhausen – 0
- 1. FC Heidenheim – FC Erzgebirge Aue – 2
- RB Leipzig – SpVgg Greuther Fürth – 1
- SV Darmstadt 98 – FC St. Pauli – 1
Bisherige Tippquote: 121 von 297 (Quote bei RB-Spielen: 11 von 33)
Man kann deiner Beschreibung in Vielem zustimmen. Dennoch sollte man über gewisse Punkte auch im Bemühen um höchstmögliche Objektivität nicht hinwegsehen. Mein Eindruck ist, dass Poulsen, auch wenn er sich hin und wieder ungeschickt im Zweikampf anstellt, unberechtigt viele Zweikämpfe gegen sich gepfiffen bekommt. Das mag zum Einen an seiner Körperlichkeit liegen, zum Anderen aber auch an den Gegenspielern, die wissen, dass Poulsen gern mal einen Zweikampf abgepfiffen bekommt, und sich bei der kleinsten Berührung fallen lassen. Andererseits wird Poulsen wegen seiner Gefährlichkeit oft von seinen Gegenspielern hartnäckig bis zum Foul bearbeitet und der Pfiff bleibt aus. Gerade Letzteres ist unverständlich für mich, da mir Poulsen nicht wie ein Schauspieler vorkommt, aber das mag meine RB-Brille sein.
Mich würde es nicht wundern, wenn in der Vorbereitung eines Spiels, die ständig meckernden Spieler analysiert und deren Gegenspieler dementsprechend darauf eingestellt werden.
Das Stürmer im Mittelpunkt der Attacken sind, liegt in der Natur der Sache.
Schiedsrichter und deren Entscheidungen waren, sind und werden immer im Mittelpunkt der Kritik stehen, seltener des Lobes.
Beispiel: Sonntag, 9.00 Uhr, die E-Jugend zu pfeifen, den meckernden Eltern und Trainern stand zu halten, mein größten Respekt dafür.
P.S.: Natürlich bin ich auch einer der über Schiedsrichterentscheidungen meckert.;-)
Wenn aber stimmt, was hier im Beitrag steht, dass es eine gewisse ausgleichende Gerechtigkeit über die Saison gesehen geben soll, was Fehlentscheidungen oder vermeintliche Fehlentscheidungen betrifft, dann müsste sich der Schiedsrichter am Sonntag aber ordentlich für uns ins Zeug legen, um all das auszugleichen, was seine Kollegen im Verlauf der Saison bei uns aufgehäufelt haben… Armes Greuther Fürth! Ich tippe mal auf einen klaren RB-Sieg. 8:0 mit 5 Elfmetern und drei unberechtigten Platzverweisen für Fürth. Unter dem wird schwer mit pari pari.
Nur, das am letzten Spieltag auszugleichen, wäre jetzt auch irgendwie voll doof. :-)
Rot-Weiße Grüße