Die medialen Messer dürften schon gewetzt sein und entsprechende Artikel vorbereitet in der Schublade liegen, wenn der Tabellenerste RB Leipzig am Sonntag beim Tabellenletzten Torgelower SV Greif antritt (04.11., 13.30 Uhr). Zu verlockend ist die Ausgangssituation in diesem ungleichen Duell, als dass man nicht bereits Wörter wie Blamage, Millionentruppe und David und Goliath im Kopf zu einem entsprechenden Artikel verarbeitet hätte.
Es bietet sich ja auch an, wenn der große Aufstiegsfavorit zum ersten Abstiegskandidaten reist, wenn knapp 6 Millionen bei etwa 1 Million Euro Transferwert antreten, wenn ein Team aus einer 500.000-Einwohner-Stadt in eine 9.000-Seelen-Gemeinde reist. Es ist in jeder Beziehung ein Duell der Gegensätze, wenn die nach oben strebenden RasenBallsportler sich mit einem Verein messen, der noch vor zwei Jahren auf den Aufstieg in die Regionalliga trotz sportlicher Qualifikation verzichtete. Für RB Leipzig wird es nicht nur die weiteste Auswärtsreise der Regionalliga-Saison, sondern gleichzeitig auch die Fahrt in die kleinste aller Regionalliga-Städte.
Es ist dies gleichzeitig Neuland für RB Leipzig, denn weder traf man schon einmal auf den Torgelower SV Greif, noch war man überhaupt schon einmal so weit im Nordosten der Republik, ziemlich nah an der Ostsee-Küste in Form der Insel Usedom. Es ist nach der Fahrt nach Neustrelitz auch erst das zweite Mal in der Vereinsgeschichte, dass die RasenBallsportler Mecklenburg-Vorpommern einen sportlichen Besuch abstatten. Generell kann ich mich abseits der diesjährigen Spielzeit an keine Duelle zwischen Torgelow und Leipziger Mannschaften erinnern (Historienkenner vor für die Gegenfakten).
Das alles zusammen macht es ein wenig zur Fahrt ins Ungewisse. Eine Fahrt, die eigentlich im Normalfall mit drei Punkten für RB enden sollte, bei der man aber auch ahnt, dass das mit den drei Punkten schwierig werden könnte, wenn man sie denn als Normalfall betrachtet. Bei nur fünf Torgelower Punkten und genauso vielen Toren aus neun Spielen und bereits vier Punkten Rückstand auf einen Nichtabstiegsplatz bietet es sich aber aus sportlicher Sicht an, den Ausflug zu einem Pflichtsiegausflug machen zu wollen. Zumal die Bilanz von RB Leipzig mit 23 Punkten und 22 Toren das komplette Gegenteil darstellt.
Andererseits wird es für Torgelow schon langsam Zeit zu punkten, wollen sie am Ende der Saison nicht wieder zurück in die NOFV-Oberliga Nord, in der sie die letzten Jahre verbrachten. Auch gegen RB Leipzig wird man im Norden sicherlich mit etwas Zählbarem liebäugeln und in der Tradition der Gegnerschaft von RB Leipzig erhöhte Motivation sowieso aus den speziellen Gegensätzen beider Vereine ziehen.
Zumal die Greifen, wie sich selbst nennen, gerade zu Hause zwar keine Macht, aber auch keine Punktelieferanten sind. Bis auf die TSG Neustrelitz, die bisher eine gute Saison spielen und im letzten Jahr in der Oberliga nur einen Platz vor Torgelow ins Ziel kamen, konnte bisher in drei Spielen kein anderes Team drei Punkte aus der Gießerei Arena mitnehmen. Rathenow und Plauen fuhren immerhin mit einem, Auerbach hingegen mit null Punkten wieder nach Haus. Letztlich aber auch noch nicht unbedingt die furchteinflößende Gegnerschaft, gegen die Torgelow da zu Hause wenig optimal punktete. Trotzdem bleibt als Fakt eine halbwegs vernünftige Heimbilanz von 5 Punkten und 4:5 Toren, die der desaströsen Auswärtsbilanz von 0 Punkten und 2:11 Toren entgegensteht.
Betreut wird der Torgelower SV Greif von Jürgen Decker, der nur den Fußballanhängern im Norden aufgrund seiner mehrjährigen Arbeit als Co-Trainer von Hansa Rostock ein Begriff sein dürfte und erstmalig bei den Relegationsspielen am Ende der letzten Saison auf der Torgelower Bank saß. Damals setzte man sich schließlich mit 3:1 Toren gegen Fortuna Chemnitz durch und verschaffte damit dem Großteil der Regionalligisten eine Auswärtsfahrt, die diesen Namen mehr als verdient.
Taktisch variiert man im bisherigen Saisonverlauf zwischen Ein-Stürmer-Systemen und Zwei-Stürmer-Systemen. Aufgrund der wichtigen Rolle des zentralen Mittelfelds bei RB Leipzig sollte man davon ausgehen, dass Jürgen Decker ein Ein-Stürmer-System mit einer kompakten Mittelachse (also irgendwas Richtung 4-2-3-1 oder defensiver ein 4-4-1-1) aufbieten wird. Eine zentrale Rolle spielt sicherlich Stürmer Djibril N’Diaye, der im letzten Jahr noch im Lok-Dress mit dem Spitznamen Dieter auflief. Während er aber 2011/2012 an gerade mal zwei Toren beteiligt war, hat er es in Torgelow bereits auf vier Torbeteiligungen (drei Treffer, eine Vorlage) gebracht. Bei insgesamt nur sechs Toren der Torgelower wohlgemerkt. N’Diaye ist also so etwas wie die Lebensversicherung des Vereins. In dieser Rolle ist er aber auch seit bereits vier Spielen erfolglos. Nicht verwunderlich, dass es in den letzten vier Spielen für den Torgelower SV Greif nur zu einem Punkt bei 2:8 Toren reichte.
Wem jetzt spontan in den Sinn kommt, dass das wenig angsteinflößend ist, hat sicherlich nicht ganz Unrecht. Auch kadertechnisch bietet Torgelow wenig Gründe für Schnappatmung. Neben dem schon erwähnten Djibril N’Diaye (vor dem man gewiss auch nicht Angst haben muss) haben vielleicht noch Rechtsverteidiger Roman Lastovka mit einigen Zwei- und Drittligaeinsätzen für Fürth und Burghausen und Stürmer Malick Bolivard (der freilich bisher noch gar nicht entscheidend in Erscheinung trat) mit einigen Drittligaeinsätzen für Hansa und Babelsberg einen gewissen Klang. Ansonsten ist der Kader eine bunte Mischung aus jungen Spielern, Spielern, die man guten Gewissens als Wandervögel bezeichnen kann und einer aus der geographischen Nähe begründeten vier Mann starken polnischen Fraktion.
Insgesamt 15 Spieler des 23 Mann starken Kaders sind im Sommer neu ins Team gekommen, darunter die drei erwähnten namhaften Kicker. Das ist natürlich zusätzlich zur durchschnittlichen Kaderqualität auch noch mal ein ziemlich starkes Hindernis für Frühform in der Saison. Auch deswegen ist der aktuelle Stand ganz am Ende der Tabelle kein Wunder. Und der Verein hat keine extrem großen Chancen, im weiteren Saisonverlauf noch sehr viele Vereine hinter sich zu lassen. Zwei würden allerdings bereits reichen für den Nichtabstieg.
Das alles ist gar nicht despektierlich gemeint. Die Arbeit, die in Torgelow in den letzten Jahre auch wohl dank Unterstützung durch eine örtliche Eisengießerei (remember den Stadionnamen?) geleistet wird, ist aller Ehren wert und gipfelte unter anderem in der Teilnahme am DFB-Pokal vor zwei Jahren (1. Runde gegen den HSV). Trotzdem dürfte der sportlich Teil der Aufgabe der RasenBallsportler im Normalfall keine Riesenschwierigkeiten machen. Aber zum Thema Normalfall gab es ja eingangs bereits ein, zwei Bemerkungen.
Alexander Zorniger hat richtigerweise erwähnt, dass man in so einem Spiel eigentlich nur verlieren kann. Vermutlich erwartet die Mehrheit einen möglichst deutlichen Sieg. Was natürlich allein schon wegen der bisher eher knappen Heimspielresultate der Torgelower vermessen ist. Aber eben auch wegen der speziellen Situation, in der das Heimteam nur gewinnen kann und die Gäste wohl nicht mit derselben Aufregung anreisen werden, wie dann eine Woche später nach Magdeburg. Man dürfte in so einer Situation dann auch mal mit einem erschweinten, knappen Sieg zufrieden sein, denn wenn man den Widerstand der Gastgeber nicht bereits früh bricht, wird es für mehr als knappe drei Punkte schon schwer (siehe Kamenz, siehe Plauen).
Es ist unter Umständen aber auch etwas übertrieben, immer zu thematisieren, was man in diesem Spiel alles verlieren kann, denn genaugenommen ist es für jeden Einzelnen eine von insgesamt nur 30 Möglichkeiten Regionalliga-Fußball zu spielen. Und allein das sollte doch ausreichen, um den 18 Spielern im Kader das Gefühl zu vermitteln, dass Sonntag Nachmittag in Torgelow eigentlich eine ganz prima Sache ist, wo man sich mal ordentlich austoben kann. Letztlich dürfte es also für die RasenBallsportler darauf ankommen, mit Bock auf Fußball anzureisen. Tun sie das, dann können sie eigentlich nur gewinnen und müssen nicht darüber sinnieren, was es zu verlieren gäbe.
Da Sebastian Heidinger wegen seines Fouls in Plauen absurderweise gleich zu zwei Spielen Sperre verdonnert wurde, dürfte sich an der Formation von RB Leipzig in Torgelow nicht viel ändern. Schwer vorstelbar (wenn auch nicht undenkbar), dass Marcus Hoffmann und Umut Kocin in den Kader rutschen könnten. Die realistischste Veränderung betrifft die Position des zweiten Stürmers, um die sich der letzte Woche äußerst spielstarke Carsten Kammlott und der etwas brachialere und durchsetzungsstärkere Stefan Kutschke streiten. Würde ich nach dem letztwöchigen Auftritt von Kammlott in der Startelf als 50:50-Entscheidung sehen. Wobei die etwas weniger feine Klinge der Torgelower im Vergleich zum Hertha-Nachwuchs die Waage leicht zu Stefan Kutschke ausschlagen lassen dürfte, quasi als Turm in der rauhen Nordluft. Abgesehen davon sollte die selbe Elf auflaufen wie vor Wochenfrist: Coltorti – Müller, Franke, Hoheneder, Judt – Schulz, Kaiser, Röttger – Rockenbach – Kutschke (Kammlott), Frahn.
Dass der Ausflug nach Torgelow der weiteste der Saison ist und sportlich nicht unbedingt jeden hinter dem Ofen hervorlockt (zumal eine Woche vor dem Knüller in Magdeburg), wird vermutlich auch dazu führen, dass die Gruppe der Gästefans so klein ist, wie er es vorher in der Saison noch nicht war und danach wohl auch nicht mehr sein wird. Geschätzt 100 bis 150 Anhänger werden den Weg auf sich nehmen. Wäre es August oder Mai und warm, würden es wohl noch einige mehr mit einem Badewochenende verbinden. Als Ausflug in möglichen Novemberregen bei leicht über der Null hält sich der Reiz offenbar in Grenzen und man spart sich die Kraft für den 11.11. und die Fahrt nach Magdeburg auf. Auch wenn es menschlich wäre, hoffentlich machen es die RasenBallsportler nicht genauso. Das mit dem Kraft sparen meine ich, am Anreisen kommen die Kicker glücklicherweise nicht vorbei..
Fazit: Das alte Spiel Tabellenletzter gegen Erster, bei dem der Außenseiter schon so oft über sich hinaus gewachsen ist. Und alle Beobachter warten schon auf einen Ausrutscher. Erst recht, wenn es sich um RB Leipzig handelt. Aber man darf guter Hofnung sein, dass die RasenBallsportler diese Aufgabe irgendwo zwischen routiniert und souverän lösen und die Überraschungswitterer (auch wenn der Torgelower SV Greif nach dem mutlosen Auftritt in Magdeburg vergangene Woche sicherlich auf Wiedergutmachung sinnt) umsonst warten. Weil RB inzwischen defensiv und offensiv die Qualität haben sollte, auch so ein Spiel positiv zu lösen.
(Wer das Spiel am 04.11.2012, 13.30 Uhr nicht vor Ort verfolgen kann und trotzdem dabei sein will, nutze die üblichen Kanäle, also Liveticker [broken Link] und das Fanradio)