In der Problemdefensive

Weiß eigentlich jemand nach dem Rathenow-Spiel wirklich, was falsch gelaufen sein soll? Von egoistischer Offensivpower (sinngemäß bei Frahn: jeder wollte das Tor machen) bis hin zur mangelhaften Rückwärtsbewegung (sinngemäß bei Kaiser: waren zu spät bei den Gegenspielern) durften sich offenbar alle rund um RB Leipzig (Spieler und Öffentlichkeitsarbeiter) darin versuchen, die von Zorniger kritisierte, fehlende taktische Disziplin mit unterschiedlichen Interpretationen aufzuladen.

Guido Schäfer hatte sich dann in der vorgestrigen LVZ die Zahl fünf als Problemfeld auserkoren. Aktuell fünf Gegentore seien viel zu viel und in Halle kassiere man eine derartige (offenbar extrem exorbitante) Zahl an Treffern nicht vor dem Winter. Lassen wir mal die Übertreibung weg und gucken uns an, wie der HFC in den letzten Jahren abschnitt. Also in den Jahren, seitdem der Verein unter dem aktuellen Trainer Sven Köhler agiert, also seit 2007:

  • 2007/2008: erste 4 Spiele mit 3 Gegentoren; Gegentore Nummer 5 und 6 am 7. Spieltag; am Ende mit 21 Gegentreffern in 30 Spielen beste Ligabilanz
  • 2008/2009: erste 4 Spiele mit 2 Gegentoren; Gegentor Nummer 5 am 8. Spieltag; am Ende mit 20 Gegentreffern in 34 Spielen beste Ligabilanz
  • 2009/2010: erste 4 Spiele mit 4 Gegentoren; Gegentore Nummer 5 und 6 am 5. Spieltag; am Ende mit 25 Gegentreffern in 34 Spielen drittbeste Ligabilanz
  • 2010/2011: erste 4 Spiele mit 4 Gegentoren; Gegentor Nummer 5 am 5. Spieltag; am Ende mit 34 Gegentreffern in 34 Spielen viertbeste Ligabilanz
  • 2011/2012: erste 4 Spiele mit 2 Gegentoren; Gegentore Nummer 3, 4 und 5 am 9. Spieltag; am Ende mit 15 Gegentreffern in 34 Spielen beste Ligabilanz
  • 2012/2013: erste 4 Spiele mit 0 Gegentoren; Gegentore 5 und 6 am 9. Spieltag

Ist jetzt nicht die Statistik schlechthin, aber sie zeigt deutlich, dass der Weg für den unter Köhler fast immer defensivstarken Halleschen FC auch nicht einfach war. 2009/2010 und 2010/2011 hatte man nach fünf Spielen auch sechs bzw. fünf Gegentreffer auf dem Konto, eine Statistik, die von RB nach dem am Wochenende folgenden Halberstadtspiel hoffentlich nicht wesentlich übertroffen wird.

Das Beispiel Halle zeigt auch, dass gerade das Finden der richtigen Mischung aus Offensive und Defensive ein Prozess war (und ist), der eben nicht im ersten Jahr funktioniert, sondern der einen langen Zeitraum braucht. Das zeigt sich vor allem darin, dass die Zahl der selbst geschossenen Tore beim HFC in den Regionalliga-Jahren beständig angestiegen ist (von 43 auf 53), was nicht unwesentlich zum letztjährigen Aufstieg beitrug.

Dass das Finden und vor allem das Verinnerlichen moderner Taktiken ein umfangreiches Vorhaben ist, dass der Weg zum Erfolg doch ein gutes Stück braucht, hat auch Dortmund vorgemacht, wo Klopp erst im dritten Jahr seiner Amtszeit den Fußball sah, den er auch sehen wollte. Und über Barcas langjährige Ausbildung im Nachwuchsfußball mit den bekannten Wirkungen auf Spieldominanz und Ergebnisse müssen wir wohl nicht reden.

Also über was reden wir hier in Leipzig eigentlich nach dem Rathenow-Ausflug? Nachdem die Spieltaktik erst während des Markranstadttests, also gerade einmal drei(!) Spiele her, vom 4-4-2 mit Doppelsechs in ein offensiveres 4-1-3-2 umgewandelt wurde? Über taktisches Fehlverhalten, das potenziell den dauerhaften Platz 1 verhindert? Really?

Robin Dutt hat in seiner Leverkusener Zeit, als der Misserfolg zum Begleiter wurde, mal sinngemäß gesagt, dass man gerade gegen kleinere Teams ohne den Versuch einer modernen Spielphilosophie kurzfristig besser fahren würde, aber über längere Sicht das Festhalten an den Versuchen Sinn macht, weil nur so das Bestehen gegen größere Gegner gesichert werden könnte. Damit hat er natürlich recht, denn sich selbst auf ein höheres Level heben zu wollen, bedeutet die eingefahrenen Wege zu verlassen und das bedeutet im Normalfall eben auch, dass Dinge, die es erst noch zu lernen gilt, an manchen Tagen noch nicht so gut funktionieren, wie Dinge, die man aus der Gewohnheit heraus können würde.

Bedeutet aus RB-Sicht auch, dass man unabhängig von Ergebnissen und von Gegnern den eingeschlagenen Weg gehen und aus gemachten Fehlern lernen muss. In diesem Sinne ist auch unaufgeregtes Reagieren auf und Analysieren von Systemknackpunkten mehr als notwendig. Das Verteidigen gegen den Ball als Mannschaftsprinzip und vor allem das Gegenpressing als komplexes System, den Ballführenden und seine potenziellen, nahen Anspielstationen unter Druck zu setzen, machen intensives Arbeiten an den Fehlern notwendig und brauchen vor allem eins: Zeit. Nur die Richtung muss halt stimmen, damit Zeit zum positiven Faktor wird.

Zwei Gegentore, bei denen verschiedene defensive Sicherungssysteme versagt haben bzw. durch individuelle Fehler und Abstimmungsprobleme sabotiert wurden, sind jedenfalls kein Anlass, um in spieltaktischen Unfrieden zu verfallen. Klar, manches in Rathenow war ziemlich wild und darüber kann man reden, aber erstens wird es – kontinuierliche Arbeit der Verantwortlichen vorausgesetzt – noch eine halbe Ewigkeit und diverse Rückschläge lang dauern, bis die Spielphilosophie der direkten Balleroberung nach dem Verlust sitzt und es ändert nichts an der Tatsache, dass das aktuelle 4-1-3-2 zwar offensiv klingt, aber im Sinne des frühen Druck ausübens auf die tief stehenden, gegnerischen Ballgewinner recht zielführend erscheint, sprich die Idee des Systems die richtige Richtung hat.

Trotzdem bleibt es natürlich anfällig, wenn man in der Gegenbewegung keinen Zugriff bekommt und ein Gegner wie Rathenow offenbar gut vorbereitet war und nach Ballgewinnen immer wieder die durch die recht zentral agierenden Röttger und Heidinger entblößten Außenbahnen bedient (freilich ohne, dass daraus Gefahr für das Coltori-Tor entstanden wäre). Sprich die Idee einer offensiven Aufstellung zum Druck entwickeln und im Fall der Fälle mit den Außenspielern in ein 4-3-1-2 abzuklappen, hat viel Charme, erfordert aber auch elendig viel Lauferei und schlägt eben aktuell etwas zurück, wenn fehlender Druck auf den Ball genutzt wird, um genau in die entblößten Bereiche des Feldes zu spielen.

Kroatiens Coach Slaven Bilic hatte vor dem EM-Spiel gegen Spanien diesen Sommer (so ich mich recht erinnere) gemeint, dass man nur die ersten zwei Sekunden des spanischen Gegendrucks nach eigenem Ballgewinn überspielen müsse und es anschließend eigentlich sehr einfach sei. Womit alles (in rein theoretischer Schlichtheit) gesagt ist. Wenn man spielerisch in der Lage ist, das Gegenpressing zu umgehen, dann sieht der Presser unter Umständen ganz schön alt aus, weil er Räume hinter sich hinterlässt, in denen es sich jeder Gegner gern gemütlich macht.

Umgedreht bedeutet das, dass ein noch nicht halbwegs sitzendes System dieser Art unheimlich viele Gefahren für die eigene Defensive birgt. Ich hatte deshalb schon vor der Saison gemeint, dass es deswegen in der Phase der Systemumstellung ein Grundvertrauen der Spieler in das System geben muss, das sich auch durch (viele) Gegentore nicht erschüttern lässt. Weil es essenziell ist, dass das ganze Team gegenpresst. Scheren ein, zwei Spieler in Ballnähe aus, weil sie Angst haben, dass ein offensives Draufgehen schlecht für die Defensive ist, kannst du das System fast schon vergessen.

Es muss also jedem klar sein, dass die RasenBallsportler noch nicht an einem Punkt sein können, für den man in Dortmund Jahre brauchte. Und es sollte klar sein, dass das aktuelle System gerade in der Hinserie durchaus ein paar mehr Gegentore mit sich bringen dürfte, als man das normal erwarten würde. Und es sollte genauso jedem klar sein, dass man gemeinschaftliches Pressing im 4-1-3-2 (leider) nicht in drei Pflichtspielen lernt. Vielleicht in 30, aber niemas in 3. Was man also braucht, ist neben Training Geduld, Ruhe und Vertrauen.

Und sowieso sollte man nie die Schritte vergessen, die gemacht werden und bereits gemacht wurden. In Rathenow beispielsweise der überwiegende Verzicht auf lange Bälle auf den Kopf von Kutschke, der gegen Lok und Union noch oft Kopfballableger war. Nicht so in Rathenow, dort wurde zu jeder Zeit weiter (oft auch erfolgreich) versucht, Fußball ohne Gebolze zu spielen. Die Lücke suchen und dann schnell in die Tiefe.  Mit der Fahigkeit immer und immer wieder eine massive Abwehr aufzubrechen.

Die Spiele, in denen die RasenBallsportler etwas ähnliches in den zwei Jahren zuvor (erfolgreich) versucht haben, kann man wohl an den Fingern einer (Sägewerk-)Hand abzählen. Und ich behaupte nicht, dass es in den letzten zwei Jahren nicht auch geile Siege, gedrehte Spiele und erkämpfte Erfolge gab, ich behaupte lediglich, dass die Art und Weise, mit der man zum Ziel kommt, beim Spiel in Rathenow eine gänzlich andere war als in den letzten zwei Jahren. Und ich halte die Art und Weise der dort gezeigten Fußballansätze für modern und zukunftsweisend.

Klar, Alexander Zorniger hat Recht, wenn er praktisch der Meinung ist, dass sein Team sich durch fehlerhaftes Gegenpressing nicht den potenziellen Erfolg schwer machen bzw. gar verhindern soll. Die Idee ist ein Spielsystem, das Spiel und Gegner dominiert und letzteren vom eigenen Strafraum weghält (also ungefähr das, was der HFC Ende letzten Jahres in Leipzig beim 1:0-Sieg gegen RB vorgeführt hat). Und Schrammen in dieser Idee darf man unbedingt besprechen und bearbeiten, weil das große Ziel letztlich heißt, in zwei Relegationsspielen bestehen zu wollen. Und da sollte man sein Glück nun wirklich nicht über Gebühr strapazieren.

Ich bin also gar nicht so weit weg von Zornigers kritischem Weg, weil er aus sportlicher Perspektive der einzig richtige ist, bleibe aber trotzdem dabei, dass ich in Rathenow mehr gutes und ermutigendes als schlechtes und entmutigendes gesehen habe, weil man immer wieder spielerische Lösungen verschienster Coleur gefunden hat und die zusätzlichen Absicherungssystem in der Defensive abgesehen von den zwei Gegentoren einen guten Dienst getan haben. Weswegen ich auch nicht unbedingt verstehe, dass nach einem 4:2 in Rathenow in Leipzig vielerorten so getan wird, als wären die Probleme größer geworden. Vielleicht sind sie es in einem Teilaspekt, aber generell sind die positiven Schritte deutlich in der Überzahl seit dem Spiel gegen Union II am Anfang der Saison.

Fazit: Klar, es steigen meist die Mannschaften auf, die die stärkste Defensive haben (wobei keiner der letzten vier Regionalligaaufsteiger nach vier Spielen besser stand als RB – wenn man Platz, Punkte und Torverhältnis nimmt). Weswegen die Torverhinderung ein essenzieller Bestandteil des Gewinnens ist. Insbesondere im Hinblick auf eine mögliche Relegation am Ende der Saison wäre ein funktionierendes Gegenpressing eine höchst wünschenswerte Geschichte. Trotzdem wird man sich vorerst und auf absehbare Zeit auf eine vermehrten Anzahl an Gegentreffern (oder gefährlich erscheinenden Spielsituationen) einstellen müssen. Und in dieser Situation ist es essenziell, dass man Mittel und Wege findet, trotzdem die nötigen Punkte auf der Habenseite zu verbuchen. Und genau das hat man beispielsweise in Rathenow recht überzeugend gemacht. Mir jedenfalls ist die aktuelle Wahrnehmung des Stands bei RB Leipzig deutlich zu problemorientiert, denn alles in allem passt doch schon erstaunlich viel und nicht erstaunlich wenig zusammen.

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Anhang mit Komplettdaten (Torbilanzen des HFC in den letzten fünf Jahren, Gegentore des HFC nach vier Spielen für die aktuelle und die fünf vergangenen Jahre, Bilanzen der Aufsteiger der letzten vier Jahre nach den ersten vier Spieltagen):

  • 2007/2008: in der damals viertklassigen NOFV-Oberliga Süd, insgesamt 21 Gegentreffer in 30 Spielen (50 geschossen), beste Bilanz der Liga (Chemnitz und Auerbach folgen mit jeweils 25)
  • 2008/2009: in der viertklassigen Regionalliga in 34 Spielen 20 Gegentore (43 geschossen), beste Bilanz der Liga (Kiel und Babelsberg folgen mit 22 und 25)
  • 2009/2010: in der viertklassigen Regionalliga 25 Gegentreffer in 34 Spielen (47 geschossen), drittbeste Bilanz hinter Babelsber (18) und Wolfsburg II (20)
  • 2010/2011: in der viertklassigen Regionalliga insgesamt 34 Gegentreffer in 34 Spielen (51 geschossen), drittbeste Bilanz hinter Chemnitz (23), Wolfsburg II (28) und RB Leipzig (29)
  • 2011/2012: in der viertklassigen Regionalliga in 34 Spielen 15 Gegentreffer (53 geschossen), beste Bilanz der Liga (RB Leipzig und Kiel folgen mit 30 bzw. 31 Gegentoren)

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  •  2007/2008: erste 4 Spiele mit 3 Gegentoren, 6 Tore; Gegentore Nummer 5 und 6 am 7. Spieltag
  • 2008/2009: erste 4 Spiele mit 2 Gegentoren, 4 Tore; Gegentor Nummer 5 am achten Spieltag
  • 2009/2010: erste 4 Spiele mit 4 Gegentoren, 8 Tore; Gegentore Nummer 5 und 6 am fünften Spieltag
  • 2010/2011: erste 4 Spiele mit 4 Gegentoren, 6 Tore; Gegentor Nummer 5 am fünften Spieltag
  • 2011/2012: erste 4 Spiele mit 2 Gegentoren, 6 Tore; Gegentore Nummer 3, 4 und 5 am neunten Spieltag
  • 2012/2013: erste 4 Spiele mit 0 Gegentoren, 4 Tore; Gegentore 5 und 6 am neunten Spieltag

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  • 2008/2009: Holstein Kiel nach vier Spielen mit 9:4 Toren und 9 Punkten auf Platz 2
  • 2009/2010: SV Babelsberg 03 nach vier Spielen mit 3:3 Toren und 5 Punkten auf Platz 9
  • 2010/2011: Chemnitzer FC nach vier Spielen mit 6:2 Toren und 10 Punkten auf Platz 2
  • 2011/2012: Hallescher FC nach vier Spielen mit 6:2 Toren und 10 Punkten auf Platz 2

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