(Kein) Klotz am Bein (mehr)

Jedem Fußballinteressierten, der in der DDR sozialisiert wurde, fällt wohl eine ganz persönliche Geschichte zum Zentralstadion ein. Das Fritz-Walter-Hackentor 1956 kam noch etwas zu früh für mich, doch im September 1985 durfte auch ich anlässlich des WM-Qualifikationsspiels gegen den damaligen Europameister Frankreich (das große Frankreich! die aus dem Fernsehen! Giresse, Platini!) die ewiglang erscheinenden Treppen der Schüssel erklimmen. Fast noch an der Hand meines Vaters laufend war es nicht nur mein erster Fußballausflug nach Leipzig, sondern auch mein erstes Flutlichtspiel und sowieso mein erstes Länderspiel.

Neben Rene Müller, der einen Hahn einfangen musste, einer überragenden DDR-Mannschaft (2:0) und einer großartigen Flutlichtatmosphäre (75.000 Zuschauer), erinnere ich mich vor allem daran, dass mein Vater in keine Kneipe mehr reinkam, weil ich noch zu jung war (bzw. es schon zu spät war, um mich in eine Kneipe zu lassen) und daran, dass die Rückfahrt in einem völlig überfüllten Zug voller mehr oder weniger angetrunkener Fußballanhänger auf mich eher bedrohlich als spaßig wirkte. In der Folge dieses Ausfluges habe ich meinen Eltern ein FUWO-Abo aus dem Kreuz geleiert und die Neue Fußballwoche in den darauffolgenden Jahren akribisch gesammelt (um sie dann in den späten Wendewirren zu entsorgen, ts).

Ein zweiter Länderspielbesuch verblasst dagegen, weder der Gegner, noch das Endergebnis fallen mir ein. Dagegen ist der Weg von Lok Leipzig nach Athen, inklusive Rene Müllers Schuß in den Winkel und ins Glück noch sehr präsent. Auch wenn ich in dem Fall ausschließlich Fernsehzuschauer und nicht Teil der geschätzten 100.000 Leute vor Ort war.

Nach der Wende schimmelte das Stadion trotz all der Anekdoten weitgehend vor sich hin, verfiel zusehends und wurde 1994 geschlossen. 3 Millionen DM kostete die Stadt das Stadion zu jener Zeit angeblich jährlich an Betriebskosten. Ab dem Jahr 2000 wurde die Ruine Zentralstadion genutzt, um innerhalb des alten Walles eine moderne FiFa-gerechte Arena zu bauen. Hauptfinanzier war der Bund mit 50 Millionen Euro, Stadion-Betreiber Kölmel schulterte den zweitgrößten Anteil mit geschätzten 45 Millionen Euro, während die Stadt Leipzig mit geschätzten 20 Millionen Euro relativ preiswert davon kam.

Mit dem Bau des neuen Stadions ging bereits das erste Missverständnis einher. Das neue Zentralstadion hat mit der alten Schüssel ungefähr soviel gemein wie die neue mit der alten Messe (blöder Vergleich) oder der Trabant mit einem VW (noch blöderer Vergleich). Zwischen beiden Stadien bestehen Gemeinsamkeiten in Bezug auf den Namen und den Standort und in der Tatsache, dass das eine Stadion quasi auf den Ruinen des anderen Stadions thront; als integrierender Sieger sozusagen. In diesem Sinne ist das alte Zentralstadion mit all seinen Erinnerungen bereits 1994 bzw. spätestens im Jahre 2000 gestorben und hat Platz gemacht für die Fußball-Moderne. Mit der alten Schüssel verknüpft sich jedenfalls nichts, wenn man die Stufen des alten Walls hinter sich lässt und der Blick auf das neue Stadion frei wird.

In diesem Sinne ein Stadion der Fußball-Moderne und nicht des traditionsbewussten Fußball-Ostens hatte es das Zentralstadion Kölmels von Anfang an schwer bei den Leipziger Fußballlagern. Den FC Sachsen lockte Kölmel mit sehr günstigen Konditionen ins Stadion. Wenn ich mich recht entsinne, zahlte (!) Kölmel für jedes Spiel die Summe x (50.000 Euro?) an den FC Sachsen und behielt dafür die Zuschauereinnahmen von bis zu 6000 Besuchern. Wenn mehr kamen (was selten der Fall war), dann wurde die Einnahmen jenseits der 6000 geteilt (seitdem gilt 6000 Zuschauer als die Grenze, ab der sich das Fußballspielen in der Schüssel lohnt). Doch trotz des generösen Deals, bei dem die hoffnungsfrohe Absicht mitschwang, dass der FC Sachsen möglichst bald ins Profigeschäft aufsteigen möge, wurde die Fraktion Grün-Weiß mit ihrem neuen Zuhause nicht warm. Zu groß, zu wenig Zuschauer, zu wenig Stimmung, kostet Punkte etc., die Klagelieder waren breit und endlos, zum Teil mit stimmigem Hintergrund, zum Teil ohne.

Und trotzdem zeigte sich das mit dem neuen Stadion verbundene Riesenpotenzial, als zum ersten Fußballspiel nach dem Neubau zum Kick des abstiegsbedrohten FC Sachsen gegen die 2.Mannschaft Borussia Dortmunds 28.000 (!) Zuschauer aus der ganzen Region herbeieilten. Das Stadion war – so könnte man daraus schließen – der jenseits der damaligen Fußballzweiteilung existente heimliche Star der Leipziger Fußballanhänger. Für mich persönlich hätte es wohl kaum Wege zum Leipziger Fußball gegeben, wenn er nicht über den FC Sachsen mit dem Zentralstadion verbunden gewesen wäre. Die alte Schüssel hingegen hätte ich mir vielleicht als eine Art Gedenkort noch mal angeschaut, ein zufriedener Fußballgast/-kunde wäre ich dort aber wohl nicht mehr geworden.

Spannenderweise war mein angenehmster Ausflug ins Zentralstadion der Post-DDR-Prä-RasenBallsport-Leipzig-Ära zu einem 3:0-Sieg des FC Sachsen gegen Achim Steffens FC Eilenburg, als sich im Dezember 2007 1800 (wahrscheinlich doppelt gezählte) frierende Zuschauer nach einer verkorksten Hinserie für einen kurzen Moment mit ihrer Mannschaft (Süßner , Rozgonyi, Möckel, Oswald, Racanal, Garbuschewski, Reimann!) versöhnten und den Beweis lieferten, dass ein Spiel im fast leeren Zentralstadion nicht per se mit schlechter Stimmung verbunden sein muss. Doch dies hielt die ewigen Diskussionen um das Zentralstadion (ja, nein, vielleicht, wenn wir mal groß sind) beim FC Sachsen nicht auf und so war die Rückkehr in den Alfred-Kunze-Sportpark schon aus diesen Gründen (und nicht nur aus Gründen der Insolvenz) folgerichtig. Und auch bei Lok Leipzig richtet man sich derzeit eher im Bruno-Plache-Stadion häuslich ein, als dass man den früheren Ankündigungen, dass das Zentralstadion das eigene Wohnzimmer sei, folgen würde.

Und auch das ist gewissermaßen folgerichtig. Das aktuelle Zentralstadion, eine 120 Millionen Euro teure, infrastrukturelle Investition, die seit ihrem Bau quasi durchgängig defizitär arbeitet, ist nicht das Stadion aller Leipziger, auch wenn das Erinnerungsanekdoten immer suggerieren, sondern in erster Linie ein kommerziell zu betreibender Veranstaltungsort der Fußball-Moderne. Fußball-Moderne! Nicht Kult, nicht Tradition, sondern Moderne! Und wenn Kult und Tradition, dann nur, wenn sie wie St.Pauli im modernisierten, professionellen Gewand daher kommt. Ein Leipziger Zentralstadion könnte derzeit und auf absehbare Zeit gar nicht ernsthaft das Stadion von Lok und FC Sachsen sein, da beiden Vereinen schon die Stadionmiete wie ein Klotz am Bein hängen würde. Was auch schon anderen Vereinen in der Republik so ging. In Kaiserslautern hätte das neue Stadion am Betzenberg den FC Kaiserslautern fast ruiniert, die 60er in München sind mit ihrer Beteiligung an der Allianz-Arena auch nie froh geworden und in Dresden muss man vermutlich nur mal die Stadt fragen, wie viel Spaß es ihr macht, Dynamo Dresden mit diversen finanziellen Zuschüssen unter die Arme zu greifen, nur weil die sich ihr Stadion nicht leisten können.

60.000 Euro kolportiert man, müsse man zahlen, wenn man ein Spiel im Zentralstadion austragen möchte, das geht natürlich weder für Lok, noch für den FC Sachsen. Dazu noch für das Stadion eines Herren, der bei den Fans beider Lager nicht übermäßig beliebt ist. Es gibt gelinde gesagt keinerlei faktische Bestandteile, die vermuten lassen würden, dass das Zentralstadion in seiner aktuellen Form und die Leipziger Kultclubs zusammenpassen könnten, außer die Clubs sind gezwungen mal wieder ein sicherheitsrelevantes Spiel in die WM-Arena zu verlegen. Und schon das ist aussagekräftig genug, dass beide Vereine nur unter äußeren Zwängen in das Stadion ziehen. Was wiederum deutlich zeigt, dass alle Anekdoten und Erinnerungen, die aus der Schüssel im Laufe der Jahre das monumental-pathetische Stadion der 100.000 gemacht haben, auf einen Gegenstand zielen, der nicht mehr existiert.

Konsequenterweise gehört der Name Zentralstadion vertragstechnisch seit dem 01.07.2010 und ganz praktisch mit dem heutigen Tag ausschließlich zum nicht mehr existenten alten Stadion. Das WM-Stadion Kölmels und damit der Ort für Leipzigs Fußball-Moderne heißt nun Red-Bull-Arena. Sicher schwingt in diesem Zusammenhang bei vielen Fußballanhängern mit Erinnerungen an die Schüssel ein bisschen Wehmut mit. Auch wenn das irreal ist, weil der Gegenstand, auf den sich die Wehmut bezieht, schon vor dem Namen verschwand und nach der Wende sowieso nicht mehr überlebensfähig war, ist die Sommerpause und ein sportlich bedeutungsloses Testspiel gegen Schalke ein guter Anlass, sich ein wenig von dieser Wehmut zu gönnen. Denn spätestens ab dem 06.08. ist mit dem Regionalligaspiel RB Leipzig gegen Türkiyemspor Berlin die Zeit des Zurückblickens vorbei, denn ab diesem Tag gehört die Schüssel endgültig und mit so ziemlich jeder Faser dem modernen Fußall, sprich RasenBallsport Leipzig. Und ich find’s gut.

Ein Gedanke zu „(Kein) Klotz am Bein (mehr)“

  1. 21.566 Zuschauer. Respekt! Für einen 4. Ligisten und ein Testspiel wirklich nicht übel. Die spielerische Leistung hat zumindest in der 1. Hz auch gestimmt. Darauf kann man aufbauen und den hoffentlich erfolgreichen Marsch durch die 4. Liga antreten.

    Auf gehts Jungs…..

Schreibe einen Kommentar zu dröhn Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert