Zu Besuch bei flachen Hierarchien

Ballack ist der erfahrenste Spieler der Deutschen. In so einem Turnier reichen nicht nur Talente aus, du brauchst Erfahrung in der Mannschaft. Es ist schwer zu sagen, er hat eine gute Karriere hinter sich. Ich denke: Habt Respekt vor Ballack und seiner Karriere. Im Sport werden erbrachte Leistungen viel zu schnell wieder vergessen. Das stört mich in vielen Diskussionen. (Nemanja Vidic in der Sport BILD vom 23.06.2010 auf die Frage, ob Deutschland ohne Ballack besser wäre)

Nemanja Vidic hat zuerst einmal uneingeschränkt recht. Respekt ist tatsächlich ein wenig vorhandenes Gut, wenn die Öffentlichkeit auf Personen öffentlichen Interesses blickt. Und was gestern noch gut war, ist heute schon vergessen bzw. verdreht sich in sein Gegenteil. Michael Ballack ist derzeit immer noch der einzige deutsche Fußballspieler mit internationaler Klasse, was weniger seinen überragenden fußballerischen Qualitäten zuzuschreiben ist, sondern vornehmlich aus seiner unnachahmlich zielstrebigen Art, seine Karriere zu verfolgen, resultiert. Nie stehen bleiben, sich immer weiter entwickeln, war sein inoffizielles Credo zumindest bis er sich entschloss, im Spätherbst seiner Karriere zu Bayer Leverkusen zurückzukehren, ein Entschluss, der wohl auch der Karriere nach dem Fußballspielen geschuldet sein dürfte.

Was Michael Ballack auf all seinen Profi-Stationen auszeichnete, war sein Wille, nicht nur Mitläufer, sondern immer Führungsspieler einer Mannschaft zu sein, jemand der mit breiter Brust auf den Platz geht, der den Kopf oben behält, wenn es nicht so läuft und jemand, der im Verlauf einer Saison gerade in den schwierigen Wochen voran schreitet und die Mannschaft mitzieht. All dies sind Eigenschaften, die man bei den Herren, die derzeit bei der Nationalmannschaft die flachen Hierarchien propagieren, noch nicht umfänglich beobachten durfte. Gerade in den schwierigen Phasen dieser WM herrschte auf dem Platz eher ungeordnetes Chaos, wenn man an die Zeit nach dem Platzverweis beim Serbien-Spiel und die Entscheidung Podolski den Elfmeter schießen zu lassen, das mühsame Ghana-Spiel und das Chaos nach dem 1:2-Anschluss der Engländer denkt. Kein Schweinsteiger, kein Lahm und auch kein Friedrich, die in diesen schwierigen Phasen besonders aufgefallen wären. Wenn die deutsche Fußballnationalmannschaft gut aussah, dann wenn sie mit schlecht organisierten Defensiven (Australien) und langsamen, unbeweglichen Verteidigern (England) zu tun hatte. Was auch nicht verwunderlich ist, ist doch der große Trumpf, um den man das deutsche Team weltweit beneiden darf, eine auf praktisch allen Positionen fußballerisch gut ausgebildete Mannschaft, ein Team, das aufs FußballSPIELEN ausgerichtet ist, ein Team, das, wenn man es lässt, seine Qualitäten aus und den Gegner an die Wand spielen kann.

Man kann die junge Mannschaft verstehen, wenn sie in Reaktion auf das Ballack-WM-Aus mit einem trotzigen ‚Wir wollen trotzdem Weltmeister werden‘ reagieren. Das war gut und zumindest fußballerisch nicht unbegründet. Und doch geht das, was insbesondere Kapitän Lahm und Arne Friedrich immer wieder bereitwillig berichten, weit über ein selbstbewusstes ‚Jetzt erst recht‘ hinaus. Ihre Berichte davon, dass jetzt (ohne Ballack) alles viel besser, viel kommunikativer ist und man sowieso in der besten Nationalmannschaft der letzten Jahre spiele, wirkt aufgrund der selbstbeweihräuchernden Wiederholung nicht nur unsympathisch, sondern darüber hinaus auch penetrant. Wenn ein Spieler wie Arne Friedrich, der ein ganzes Jahr lang weitgehend hilf- und tatenlos zusieht (jedenfalls nicht mit Leistungen überzeugt, die den Eindruck des Voranschreitens vermitteln), wie der eigene Verein absteigt, plötzlich den heiligen Gral der psychologischen Teamführung entdeckt hat, dann ist das schon mehr als erstaunlich. Unbenommen den Beiden (Friedrich und Lahm), dass sie es netter finden in einer Mannschaft, in der jeder alles (und wahrscheinlich auch nichts) sagen darf. Unbenommen, dass sie es schön finden, dass alle sich verstehen und lieb zueinander sind. Tatsächlich passt dieser Ausbruch an Harmoniekultur zum lieben Image, den die Spieler der Nationalmannschaft (wenn man mal von Tim Wiese absieht) auch individuell verkörpern. Alles liebe Jungs von nebenan, ohne größere Allüren.

Damit stehen sie auch prototypisch für das, was in der Nachwuchsförderung in Deutschland als zentrales Kriterium gelten kann: die Ausbildung von fußballerisch exzellentem Personal bei gleichzeitiger Bildung einer möglichst reibungsfreien, anpassungsfähigen Persönlichkeit. Was auch immer man von Kevin-Prince Boateng halten mag, dass er als Typ nicht gerade ins Raster der DFB-Nachwuchsförderung passt, ist auffällig. Zu exzentrisch, zu individuell, zu laut. Eigenschaften jedenfalls, mit denen man derzeit nicht in die Nationalmannschaft kommt. Man kann dies gut finden oder schlecht, was daraus resultiert, sind dann aber tatsächlich Fußballspieler, die mit den Ansprüchen eines Führungsspielers wie Michael Ballack nichts mehr anfangen können. Selbst im gleichberechtigten Team groß geworden, gelernt nicht anzuecken (vor allem nicht nach oben) wird es für diese Menschen als Typen schwierig, sich gegenüber einer Vaterfigur, wie sie Ballack verkörpert, durchzusetzen. Das alte Prinzip, sich an einer Autorität abzuarbeiten, daran zu wachsen und zu entwickeln und irgendwann besser zu sein als die Autorität scheint in der Nationalmannschaft außer Kraft gesetzt worden zu sein. Dafür steht nicht zuletzt Jogi Löw, dessen Auswahlkriterien Charaktere, an denen sich jüngere Spieler reiben könnten, weitestgehend ausschließt; was sicher in manchen Situationen das Arbeiten vereinfacht, wenn z.B. das gemeinsame Diskutieren von Taktiken und Spielsituationen möglich wird.

Und doch, die friedliche Gemeinschaft der Gleichen vermittelt ein Klima der Nichtreibung, aus dem nicht nur Stärken des Teams resultieren können, sondern auch Schwächen des individuellen Fußballers. Wer im Team nicht gefordert wird, sich auch einmal gegen Anmaßungen zur Wehr zu setzen, wer die Kompetenz nicht erwirbt, was es heißt, auch als junger Spieler Schwierigkeiten und Unwägbarkeiten zu bestehen und zwar als einzelne Person zu bestehen und nicht als Mitglied einer vielköpfigen, flachen Hierarchie, dem fehlt unter Umständen auch auf dem Platz, wo man gerade in entscheidenden Spielsituationen auch auf sich allein gestellt ist, die Fähigkeit sich als Einzelner zu behaupten und durchzusetzen.

Ich verzichte gerne darauf, dass mir das Argentinien-Spiel meine Gedankengänge belegt, zu befürchten ist aber – und zwar gerade wegen und nicht trotz der bisherigen Turnierleistungen – dass das Argentinienspiel für die deutsche Nationalmannschaft ein Desaster werden könnte, zumindest wenn die wahrnehmbaren Vorzüge der gelebten flachen Hierarchie weiterhin im einander lieb haben und fußballerischen Qualitäten und nicht in Führungsqualität und Verantwortlichkeit in schwierigen Situationen bestehen. Und ich hoffe, dass dies potenzielle Desaster nicht dazu führt, dass man den Sammerschen, antiquiert-autoritären Führungsstil reaktiviert. Dagegen hoffe ich darauf, dass großartigen Sportler und großartigen sportlichen Leistungen die Würdigung entgegengebracht wird, die sie verdienen. Und ich hoffe darauf, dass auch flache Hierarchien nicht nur intern-kommunikative PR-Agenturen sein werden, sondern Institutionen, die für Positionen und Haltungen Verantwortung übernehmen und so auch für junge Spieler Halt und Reibungsfläche zugleich sind.

3 Gedanken zu „Zu Besuch bei flachen Hierarchien“

  1. Ach naja, die Gedanken des Beitrages sind ja ein Stück unabhängig von konkreten Ergebnissen. Deswegen hatte ich sie auch schon vor dem Spiel zu Papier gebracht. Natürlich vor allem vor dem Hintergrund, dass ich eher auf einen Argentinien-Sieg getippt hätte und nicht wollte, dass dieser Beitrag hier als so eine Art Nachtreten interpretiert wird.

  2. @rotebrauseblogger:

    Toller Artikel! Sehe es ähnlich. Ballack einges für den DFB geleistet und sollte dementsprechend mit Respekt behandelt werden.

    Zumal ich denke, dass er in Spielen wie gegen Serbien oder Spanien dem deutschen Team gut getan hätte. Als Unterstützung zum unermüdlichen Schweinsteiger.

    In diesen Spielen ist ihm nämlich kein Lahm zur Seite gestanden, um die Niederlage abzuwehren. Ballack wäre hier der richtige Mann.

    Allerdings muss auch Ballack akzeptieren, dass die Hierarchie eine andere ist. Kein Alleinherrscher mehr, sondern Kollektiv.

    Ballack sollte Taten statt Worte folgen lassen. Wenn man ein hohes Standing hat, muss man das nicht durch die Presse zementieren, Herr Lahm. Das hat schon Herrn Frings das (DFB-)Genick gebrochen.

    Lahm bringt ja wenigstens noch Leistung..

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert