Knapp drei Jahre ist es nun her, dass RB Leipzig das letzte Mal gegen Hertha BSC in einem Testspiel antrat (wenn man den Medienberichten der letzten Tage glauben mag, ist von Seiten der Herthaner nun keine Wiederholung mehr vorgesehen). Damals wie heute war es für RB Leipzig das letzte Testspiel vor dem Saisonstart. Damals wie heute hatte Hertha noch zwei Wochen mehr Zeit bis zum ersten Pflichtspiel (was man bei der Bewertung von Spielen nicht vergessen sollte). Im Gegensatz zu damals, als RB Leipzig als Viertligist gegen den frisch abgestiegenen Zweitligisten mit 2:1 gewann, verlor man diesmal als Drittligist gegen den Bundesligisten mit 0:1. Vielleicht kann man das ja als gutes Omen nehmen, denn damals folgte der Euphorie nach dem Sieg eine ziemlich schwache Saison. Möglicherweise folgt ja der ausbleibenden Vorbereitungseuphorie diesmal dagegen eine starke Saison.
Stark war jedenfalls schon mal, was RB Leipzig in der ersten Halbzeit und hier vor allem in den ersten 20 bis 25 Minuten für einen Fußball spielte. Aggressiv, hoch angreifend, taktisch geschult, eingespielt und mit einigen individuellen Highlights. Das sah schon sehr gut aus, blieb aber trotzdem ohne zählbaren Erfolg, weil Fandrich nur den Pfosten traf und auch Kaiser und Poulsen kein Glück hatten. Anschließend kam dann Hertha, die in der ersten Hälfte teilweise ziemlich pomadig spielten, aber ihre individuelle Klasse auch immer wieder aufblitzen ließen, wenn sie mal auf den Außenbahnen in Ballbesitz kamen, immer besser ins Spiel und hatten ihrerseits noch zwei, drei Chancen. Sodass die erste Hälfte insgesamt ausgeglichen war. RB Leipzig war als Team besser, Hertha blieb indivdiuell gefährlicher.
Angetreten war RB Leipzig im Gegensatz zu den letzten Spielen im 4-3-1-2 statt im 4-3-3. Wobei die Differenzen letztlich eher in der Besetzung der Positionen als in der Taktik selbst liegt, wie man gestern schön beobachten konnte. Spielte gegen HB Køge noch Daniel Frahn den Mittelstürmer, der in der defensiven Grundformation an vorderster Stelle die gegnerischen Abwehrspieler am Spielaufbau hinderte, kam diese Rolle diesmal dem Zehner Thiago Rockenbach zu, während die beiden Stürmer Frahn und Poulsen (analog zu Luge und Poulsen bspw. gegen Køge) auf den Außenbahnen meist etwas tiefer standen und je nach Bedarf weiter nach vorn rückten, um zu pressen oder sich fallen ließen, um Kompaktheit herzustellen. Fielen sie hinter Rockenbach zurück, ergab sich wie schon gegen Køge im Defensivverbund ein 4-3-2-1-Tannenbaum-System, bei dem allerdings die Dreierkette auch nicht wirklich auf einer Linie agiert, sondern zwei Achter hat, die zusätzlich immer mit herausrücken, um den Ball zu attackieren.
Heißt alles in allem nur, dass der Unterschied zwischen 4-3-1-2 und 4-3-3 letztlich nur einer der Besetzung der Positionen mit bestimmten Spielertypen ist und sich taktisch auf dem Feld ähnlich manifestiert. In defensiver Standardformation natürlich nur, denn nach der Balleroberung oder im Spiel mit dem Ball fällt Rockenbach dann wieder zurück auf die Zehnerposition, während die Stürmer in entsprechende Positionen rutschen. Trotzdem zeigt sich hier die Flexiblität in der Übernahme von Spielrollen, die sich auch gut beobachten lässt, wenn Spieler einfach mal die Position ihres Neben- oder Hintermannes übernehmen, wenn es nötig wird. Da gibt es kaum Abstimmungsprobleme, wenn Rockenbach dann mal plötzlich Sechser und Frahn Achter ist und dafür Kaiser eine Minute lang auf der Zehn steht oder Schulz im Sturm. Da ist deutlich zu erkennen, dass viele Spieler in der Mannschaft inzwischen schon ein Jahr lang in Zornigers Systemideen agieren und entsprechend gelernt haben, miteinander zu harmonieren.
Auffällig schien gestern, dass die stärker werdende Hertha sehr mit einem schwächer werdenden Rockenbach zu tun hatte. Der hatte anfangs den Herthanern kaum eine Möglichkeit gelassen, über die Mittelfeldzentrale in Ruhe das Spiel aufzubauen. Doch ab Mitte der ersten Halbzeit nahm Rockenbachs Präsenz (vielleicht ist es anmaßend, aber mir erschien Rockenbach nicht 100% fit) vor den Innenverteidigern oder Peter Niemeyer im defensiven Mittelfeld ab, sodass diese immer mehr Raum bekamen, präzise Pässe auf die Außenbahnen von RB zu schlagen. Von wo aus es dann immer mal gefährlich wurde, weil es einfach immer wieder Eins-gegen-Eins-Situationen gegen individuell hervorragende Herthaner gab. Was auch wieder mal zeigte, wie wichtig das präzise Spiel gegen den Ball von ganz vorne auf dem Platz an für das gesamte Defensivverhalten in einem hoch vertedigenden System wie dem von RB Leipzig ist.
In der zweiten Halbzeit zeigte Hertha dann mit einer komplett neuen Mannschaft, wie Tempo im Bundesligaformat aussieht, denn für 15 bis 20 Minuten waren sie nun das deutlich überlegene Team, das vor allem mit beeindruckender Geschwindigkeit, die Abwehr von RB Leipzig immer wieder in Verlegenheiten stürzte und so die zwei Spielklassen Unterschied, die eben zwischen beiden Mannschaften bestehen, auch auf den Rasen brachte. Insbesondere Ramos war nie zu stoppen und zeigte, was ein sehr guter Erstligastürmer ist. Als Balleroberer, Techniker, Konterspieler und Torschütze. Beeindruckende Vorstellung.
Dass Ramos den einzigen Treffer des Spiels ausgerechnet in Folge eines Eckballs erzielte, wird zwar der Geschichte des Spiels insgesamt nicht gerecht, weil es einige Chancen aus dem Spiel heraus gab. Andererseits waren die RasenBallsportler gerade bei ruhenden Bällen den Herthanern teilweise hoffnungslos ausgeliefert. Ob dies Zufall war oder mangelnder Konzentration geschuldet oder einfach Folge der körperlichen Unterlegenheit ist letztlich nur Spekulation. Sachlich müsste man natürlich am ehesten auf letzteres tippen, was eine leichte Sorgenfalte für die kommende Drittligasaison hinterlassen würde. Denn auch da werden der tendenziell kleinen RB-Mannschaft einige Teams mit stattlichen Körpermaßen und einiger Robustheit begegnen.
Mit zunehmender Spielzeit gelang es RB wieder, Ordnung und Kontrolle ins Spiel zu bringen. Was aber auch der Tatsache geschuldet war, dass die Herthaner im Laufe der zweiten Halbzeit immer mehr das Tempo aus der Partie nahmen. Von richtigen Ausgleichschancen war RB bis auf Poulsen und Hoheneder trotzdem relativ weit entfernt, während auf der anderen Seite ein gut aufgelegter Coltorti dafür sorgte, dass es bei nur einem Gegentreffer blieb.
Bleibt natürlich die Frage, was ein solches Spiel wert ist. Was sofort auch zur Eingangsanmerkung, dass Hertha noch mitten in der Vorbereitung steckt, führt. Denn genau dies und die nicht übermäßig ausgeprägte Kampfbereitschaft merkte man dem Bundesligisten doch zeitweise an. Letztlich würde ich sogar soweit gehen, dass das Spiel gegen HB Køge mehr Aussagekraft hatte, weil die RasenBallsportler dort auf Gegner trafen, die ihnen 90 Minuten lang permanent aggressiv auf den Füßen standen, was der Simulation einer typischen Drittligapartie wohl sehr viel näher gekommen sein dürfte als das Spiel gegen technisch starke Herthaner, die aber erst in der zweiten Halbzeit (auch aufgrund einer veränderten Taktik, wenn ich das recht gesehen habe) aggressiver gegen den Ball und entsprechend gegen die RasenBallsportler arbeiteten.
Nimmt man es von dieser Seite, dann war das Spiel gegen die Hertha nicht extrem viel wert. Andererseits hat man lange Zeit gesehen, dass gerade die Fähigkeiten von RB Leipzig im Spiel gegen den Ball einen Bundesligisten lange Zeit in Verwirrungen stürzen konnten. Was man zumindest als Beleg für gewachsene Klasse und als Selbstvertrauensspritze mitnehmen kann. Dass daraus wie schon gegen HB Køge kein Tor resultierte, sollte man dabei zumindest im Hinterkopf behalten, denn auch wenn Hertha ein Bundesligist ist, die Chancen auf Tore waren in diesem Spiel wie schon gegen die Dänen potenziell und faktisch da. Vielleicht ist es in diesem Zusammenhang nicht irrelevant, dass ein Yussuf Poulsen zwar immer wieder seine überragende individuelle Klasse vor allem im Dribbling aufblitzen lässt, aber insgesamt auch noch bei weitem nicht zu 100% in die Spielabläufe integriert scheint. Und auch die Interaktion Frahn-Poulsen hat durchaus noch Luft nach oben. Alles nicht unverständlich nach so kurzer Zeit des Zusammenspiels und vielleicht ja ein Puzzlestück in der aktuellen Abschluss’schwäche’.
Wäre ich jedenfalls der Trainer des kommenden Gegners von RB Leipzig, hätte ich zwar Respekt, aber keine Angst vor RB. Respekt, weil die RasenBallsportler in Sachen taktischer Organisiertheit und Flexibilität inzwischen einige Klasse gewonnen haben und individuell sehr gut besetzt sind. Keine Angst, weil im Detail doch auch noch ein, zwei Macken stecken, wie die Anfälligkeit bei Standards und die geringe Torausbeute in den letzen zwei Spielen zeigen. Eine Woche bleibt der Mannschaft ja noch für Feinjustierungen und dann steht ja auch eine lange Saison bevor, in der man sich entwickeln kann.
Relativ klar dürfte dagegen bis auf einzelne Ausnahmen die Startformation für den Pflichtspielauftakt sein. Der weiterhin sichere Rückhalt im Tor ist Coltorti. In der Verteidigung agieren der verlässliche Müller, der weiterhin überragende Hoheneder und der stabile Anthony Jung. Offen wäre noch ein wenig der zweite Innenverteidiger, obwohl da Tobias Willers gerade die Nase vorn zu haben scheint. Im Sturm sind Frahn und Poulsen am Anfang der Saison sicherlich gesetzt. Der einzige, der im Mittelfeld zu 100% gesetzt sein dürfte, ist Dominik Kaiser auf der Sechs. Drumherum ist es dann eine Frage der Taktik und der Tagesform. Drei aus dem Kreis Fandrich, Rockenbach, Schulz, Luge, Röttger lautet die Zauberformel. Müsste ich aktuell tippen, würde ich Fandrich, Schulz und Röttger wählen.
Weiterhin nicht am Ball sind Fabian Franke, Matthias Morys und Neuzugang Joshua Kimmich. Für Franke und Morys dürfte es schwer werden, sich schnell wieder ins Team zu arbeiten. Zumindest falls RB halbwegs erfolgreich in die Saison startet. Und für Joshua Kimmich, dem ja zusätzlich noch die komplette Vorbereitung mit RB fehlt, dürfte es noch sehr lange und vielleicht bis nach der Winterpause dauern, bis er an Einsatzzeiten schnuppert.
Fazit: Der Test gegen Hertha BSC war ein sehr guter, auch wenn er vielleicht nicht bis ins Detail aussagkräftig war. Trotzdem haben sich die RasenBallsportler gegen einen Bundesligisten mit ihrem aggressiven Spielstil gut geschlagen und sind nur mit einer knappen Niederlage nach Hause gefahren. Vielleicht war es letztlich nicht unbedingt die erhoffte Standortbestimmung, ein unterhaltsames Vergnügen, aus dem die RasenBallsportler Selbstvertrauen ziehen können, war es aber allemal.
Randbemerkung: Ein Vergnügen wurde das Spiel auch durch sein absolut entspanntes Umfeld. Auf der Haupttribüne saßen Herthaner und RBLer in bunter Mischung durcheinander und kamen ohne Anfeindungen oder ähnlichem ins fußballtypische Gespräch. Auf den Straßen stand zwar einige Polizei parat, aber letztlich kamen Hertha- und RB-Schals auch da in völliger Harmonie nebeneinander aus. Klar, die Anti-RB-Fraktion war in Berlin geblieben, was einiges an Entspanntheit mit sich gebracht haben dürfte. Trotzdem war es nach all dem medialen Boykott-Gerede im Vorfeld der Partie ziemlich hübsch, völlig harmonisch in einem 50:50 gefüllten Berlin-Leipzig-Block zu sitzen und sich wechselseitig über gelunge Aktionen freuen und weniger gelungene Aktionen ärgern zu können. Eigentlich sollte so etwas ja selbstverständlich sein. Da es das aber nicht ist, ist es an dieser Stelle eben eine Randbemerkung wert.
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Tor: Ramos (49.)
Aufstellung: Coltorti – Müller (88. Heidinger), Hoheneder, Willers (88. Sebastian), Jung (88. Judt) – Fandrich (75. Ernst), Kaiser (88. Luge), Schulz (75. Thomalla) – Rockenbach (67. Röttger) – Poulsen (75. Kammlott), Frahn (88. Papadimitriou)
Zuschauer: 4.183 (in Dessau, zieht man die neutralen Besucher ab ziemlich 50:50 gemischt Hertha- und RB-Anhänger)
Links: RBL-Bericht [broken Link], RB-Fans-Bericht, Hertha-Bericht
inbesondere die analyse der aufstellung im ersten teil des artikels habe ich gestern ganz genau so gesehen. war spannend anzusehen, wie die 3 vorn agierten.
Auch die nachlassende konzentration von Rocke war auffallende. insbesondere er wurde von zorni immer wieder von der seite angemahnt, er solle mehr machen…