Manchmal sind Interpretationen schon erstaunlich. Das gilt auch für DFL-Präsident Reinhard Rauball, der der Meinung ist, dass die Empfehlung des Schiedsgerichts die sogenannte Stichtagsregelung aus der 50+1-Regel zu streichen, bedeute, dass “die 50+1-Regel im Kern erhalten bleibt.” [broken Link] 50+1 heißt bisher, dass der Mutterverein die Mehrheit an der Kapitalgesellschaft halten muss, die bei vielen Vereinen ausgegliedert wurde und den Spielbetrieb der Mannschaften in den Profiligen organisiert. Aufgrund der Stichtagsregelung ist es Bayer und VW als Ausnahmen möglich in Leverkusen und Wolfsburg jeweils die Entscheidungsträger, also die Besitzer zu sein. Die zu verändernde Regel (die Profivereine müssen der Empfehlung des Schiedsgerichts noch in einer Mitgliederversammlung zustimmen) ist diese hier (zu finden in der DFL-Satzung [broken Link]):
Über Ausnahmen vom Erfordernis einer mehrheitlichen Beteiligung des Muttervereins nur in Fällen, in denen ein Wirtschaftsunternehmen seit mehr als 20 Jahren vor dem 1.1.1999 den Fußballsport des Muttervereins ununterbrochen und erheblich gefördert hat, entscheidet der Vorstand des Ligaverbandes.
Die der Logik folgend dann so heißen würde:
Über Ausnahmen vom Erfordernis einer mehrheitlichen Beteiligung des Muttervereins nur in Fällen, in denen ein Wirtschaftsunternehmen seit mehr als 20 Jahren den Fußballsport des Muttervereins ununterbrochen und erheblich gefördert hat, entscheidet der Vorstand des Ligaverbandes.
Heißt, dass wenn die DFL zustimmt, zukünftig alle Vereine ihre mehrheitliche Beteiligung an den Kapitalgesellschaften an Unternehmen abgeben können, die 20 Jahre lang als Sponsor im Verein tätig waren. Was dabei ununterbrochen und erheblich bedeutet und ob die Entscheidungsgewalt der DFL nicht juristisch noch mal zum Zankapfel werden kann, sei einmal dahin gestellt. Mir jedenfalls scheint die entscheidendere Interpretation die zu sein, dass man aus einer verpflichtenden 50+1-Regel eine freiwillige gemacht hat, denn nichts anderes bedeutet es, wenn man nun zu einem Zustand kommt, in dem potenziell jeder Verein seine Stimmmehrheit einem Wirtschaftsunternehmen übertragen kann.
Ich finde, dass man das durchaus so klar im Blick haben sollte, wenn man über mögliche Veränderungen der Fußballwelt durch die Veränderung der Regel reden will. Die DFL-Position, dass 50+1 ihren Kern behält, erscheint mir jedenfalls Augenwischerei, die letztlich nur dem (ideologischen?) Zweck dient, das Gesicht nicht zu verlieren und sich weiter von englischen oder spanischen (oder wer einem gerade einfällt) Verhältnissen möglichst lautstark distanzieren zu können. Manchmal hat man das Gefühl, dass es bei grundsätzlichen Entscheidungen im Fußball möglichst darum geht, am Ende einen Kompromiss zu finden, den man rethorisch als Kompromiss verkaufen kann, der aber nicht immer den grundsätzlich zu klärenden Fragen gerecht wird. Im Falle der Regionalliga-Reform konnte man dies schon sehr gut beobachten, als man zum Schluss einen Kompromiss beschloss und abfeierte, der in offensichtlichem Widerspruch zur Idee derer stand (den Regionalliga-Klubs), die die Regionalliga-Reform überhaupt erst angeschoben hatten.
Erstaunlich an dieser Art der Entscheidungsfindung ist, dass nun zwar die unmittelbar Beteiligten, nämlich Beschwerdeführer Martin Kind und DFL ihr Gesicht gewahrt haben, aber eigentlich niemand – jenseits von ‘wir wollen die 50+1 behalten’ – überhaupt angefangen hat, darüber nachzudenken, was die 50+1-Regel leisten soll und was sie wiederum aktuell leistet und inwiefern man sie überarbeiten muss, um einen Zustand zu erreichen, in dem sie das leistet, was sie soll. Nicht nur, dass die 50+1-Regel bisher Ausnahmen wie Bayer Leverkusen und VfL Wolfsburg aus historischen Gründen zugelassen hat oder Phänomene wie Hoffenheim oder RB Leipzig gar nicht erfassen konnte, weil diese von der bisherigen 50+1-Regel gar nicht tangiert wurden, auch die Prüfung der Einhaltung der Nichteinmischung von Sponsoren (also der inoffiziellen Außerkraftsetzung der 50+1-Regel) ist offenbar strenggenommen nicht möglich, wenn man einer Interviewaussage [broken Link] von Christian Müller von der Clublizensierungskommission der UEFA glaubt:
Auch Sponsoren erwarten unter bestimmten Bedingungen Mitsprache, denken Sie mal an die Trainerbestellung beim KSC vor einigen Jahren zurück. Es ist ein kompliziertes Thema, wie Entscheidungsrechte in einem so komplexen Gebilde wie einem Bundesliga-Club idealerweise zugeordnet werden sollten.
Vor diesem Hintergrund hat es mich schon immer verwundert, dass der Reflex auf Martin Kinds Forderung, die 50+1-Regel zu modifizieren, immer war, dass man die 50+1-Regel nicht verändern dürfe. Und so gar nicht mehr darüber reden mochte, dass 50+1 genaugenommen in der alten Form gar nicht (mehr?) funktioniert hat. Wenn man 50+1 gewollt hätte, hätte man – würde ich sagen – dafür kämpfen müssen und die Zügel eher anziehen als lockern dürfen. Mal juristisches Geplänkel auf einen zweiten Schritt verschoben, hätte dies aber wohl bedeutet die historischen Ausnahmen LEV und WOB abzuschaffen. Was wohl auch keine gute Lösung gewesen wäre. Da man dies aber alles noch nicht mal denken wollte, hat man nun einen Kompromiss, der die Verpflichtung auf 50+1 defacto abschafft, auch wenn man argumentativ weiter dran festhält. Bis irgendwann ein Sponsor kommt und gegen eine konkrete Entscheidung der DFL klagt, dass er Verein XY nicht übernehmen dürfe.
Vielleicht ist das Ergebnis der Kompromissklüngelei – mal jenseits des nicht gerade sachorientierten Wegs dahin – aber auch durchaus ein zeitgemäßes und angemessenes Instrument. Vereine werden weiterhin – 51% oder 49% Unternehmeranteil hin oder her – mit ihrer Umwelt und ihren Fans interagieren müssen. Und Fans haben weiterhin auch jenseits der stimmberechtigten Mitgliedschaft Einflussmöglichkeiten, so sie diese denn tatsächlich anstreben. Mitgliedschaft ist schließlich auch desöfteren einfach nur der identitäre Besitz einer Mitgliedskarte mit möglichst niedriger Nummer, der im besten Fall den Weg zu Tickets erleichtert. Jenseits der Mitgliedschaft als Kontrollinstrument bietet die 50+1-Regel aus der DFL-Satzung schließlich auch noch einen Passus, der (ob juristisch angreifbar weiß ich nicht) der Übernahme durch Investoren enge Grenzen setzt:
Dies setzt voraus, dass das Wirtschaftsunternehmen in Zukunft den Amateurfußballsport in bisherigem Ausmaß weiter fördert sowie die Anteile an der Kapitalgesellschaft nicht weiterveräußert bzw. nur an den Mutterverein kostenlos rückübereignet. Im Falle einer Weiterveräußerung entgegen dem satzungsrechtlichen Verbot bzw. der Weigerung zur kostenlosen Rückübereignung hat dies Lizenzentzug für die Kapitalgesellschaft zur Folge.
Was bedeutet, dass selbst wenn Martin Kind die Stimmmehrheit bei Hannover 96 erwirbt, er seine Anteile nicht weiterverkaufen dürfte. Selbst im Falle der Insolvenz des Investors Kind fallen die Anteile kostenlos an den Mutterverein zurück. Sprich, bei einem Verein als Mehrheitseigner einzusteigen, heißt diesem treu bleiben zu müssen. Die schnelle Mark Der schnelle Euro ist so zumindest nicht zu machen, schnelle Besitzerwechsel auch eher ausgeschlossen.
Witzigerweise, ich merkte das irgendwann früher schon mal an, tangiert das ganze 50+1-Theater Red Bull überhaupt nicht – eher schon die oben erwähnte Tatsache, dass es wie oben gezeigt für die Fußballverbände genaugenommen nicht nachvollziehbar ist, wer wie in den Vereinen die Entscheidungen trifft und so auch nicht, ob in Leipzig Red Bull oder die RB-Verantwortlichen das Sagen haben. RasenBallsport Leipzig ist als eingetragener Verein überhaupt nicht Gegenstand der 50+1-Regel, weil der e.V. sowieso zu 100% seinen Mitgliedern gehört. Wer diese Mitglieder sind und ob der Verein offen für stimmberechtigte Mitglieder ist, danach fragt die 50+1-Regel nicht. Hätte man sie aber fragen lassen können, wenn man im Anschluss an eine sachorientierte Diskussion zur 50+1-Regel auf die Idee gekommen wäre, diese extrem zu verschärfen und ausnahmslos wasserdicht zu machen.
Ob Red Bull irgendwann Interesse daran hat, auch offiziell Besitzer in Leipzig zu sein, wird man abwarten müssen. Schließlich steht – gesetzt die sportlichen Ziele gehen in Erfüllung – irgendwann die Frage an, ob Red Bull Salzburg und RB Leipzig gleichzeitig in Europa spielen dürfen. Eigentlich verbieten die UEFA-Statuten die Teilnahme zweier Mannschaften, die maßgeblich vom selben Geldgeber abhängen. Da könnte es sich eventuell gut machen, in Leipzig gar nicht erst als Anteilseigner aufzutauchen. Dass dann immer noch der beachtenswerte Kapitalfluss von Red Bull gen Leipzig bliebe, steht dabei auf einem anderen, zukünftigen, eventuell auch relevanten Blatt.
Insgesamt würde ich behaupten, dass man mit schlechten Methoden eine neue Regel gefunden hat, die auf absehbare Zeit durchaus alltagstauglich sein, also das Glas eher halb voll als halb leer sein dürfte. Ob irgendjemand nach Kind noch einmal Lust auf juristische Prüfungen haben wird, wird sich zeigen und würde dann auch die Rechtsbasis der 50+1-Regel klären. Bis dahin wird der Streit über den Erwerb von Stimmmehrheiten durch Unternehmen nun in die Vereine selbst verlagert. Was der Diskussion ums Thema eventuell sogar gut tut, denn nun müssen innerhalb der Vereine tatsächlich Argumente pro und contra ausgetauscht werden.
Gut möglich, dass sich mitgliederstarke Vereine wie Dortmund, Schalke, Bayern, HSV, Hertha und Co die Unabhängigkeit quasi als Aushängeschild erhalten bzw. leisten und die kleineren Vereine wie Hannover, Augsburg, Freiburg, Mainz und Co in der Partnerschaft mit lokalen Unternehmen durchaus eher zur Abgabe von Stimmmehrheiten aufgrund wirtschaftlicher Zwänge tendieren. Ob das den Fußball in Deutschland essenziell verändern wird, wage ich zu bezweifeln. Die wirtschaftlichen Unterschiede wird es auch im wesentlichen nicht ausgleichen. Falls die wahrscheinliche Änderung der 50+1-Regel in den nächsten Jahren eine sach- und faktenorientierte Diskussionskultur nach sich ziehen sollte, hätte dieser Kompromiss sogar noch positive Folgen.
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Ergänzend noch drei Blogtexte unterschiedlicher Zielrichtung zum Thema 50+1 (gerne in den Kommentaren um weitere Blogtexte zu erweitern):
50+1 und die Abschaffung der Lex LEV und WOB (broken Link) bei Alles begann gegen Schweinfurt…
Es war einmal… Die 50+1-Regel bei schalkefan
Kompromiss im Kaugummi-Konflikt [broken Link] bei Press-Schlag
Moin,
die Problematik stellt sich vor Allem bei Vereinen, die immer noch ein e.V. sind, so wie es beim S04 noch der Fall ist.
Hier sind solche Dinge daher komplett ausgeschlossen und das ist auch gut so.
In diesem Beispiel muss sich die Diskussion eben um den Beibehalt dieser Vereinsform drehen.
Aufgrund der Änderungen im Bezug auf den Wegfall der Lex Leverkusen und Wolfsburg haben die Vereine, die eine Ausgliederung schon durchgeführt haben, nun andere Möglichkeiten.
Glas halb voll oder halb leer? Ich bleibe bei halb leer.
Ich verurteile jegliche Einmischung von Unternehmen in Vereinsgeschicke, bin allerdings nicht so verblendet, um nicht zu registieren, dass dies auch mit der alten Regel schon passiert ist.
Ah, Schalke ist auch noch ein e.V. Interessant, wusste ich nicht. Was ja letztlich innerhalb des Vereins noch eine zusätzliche Barriere für einstiegswillige Investoren darstellt. Ich bin tatsäch gespannt, wie Diskussionen laufen, wenn irgendwann Investor XY vor der Tür steht und magathesk sagt, gebt mir die Macht, ich gebe Euch Erfolg. Ob die Ablehnung gegen solche Modelle innerhalb der Vereine tatsächlich groß ist oder ob es eher ein schulterzuckendes ‘wenn es Erfolg bringt, ists mir egal’ gibt. Und letztlich ist es eine offene Frage, ob veränderte Stimmanteile tatsächlich zu permanent höheren Investitionen führen. Und selbst wenn, wenn es alle machen, würde es sich auch wieder aufheben. Auch eine mögliche Vision der 50+1-Veränderungen. Eine weitere Spirale in der Anhebung von Etats und somit der Spielergehälter oder Transfersummen, denn dort fließt zusätzliches Geld ja zumeist hin.